„Eine Art Weltcup“

Heute beginnt in Abwesenheit von Kasparow und Kramnik die eiligste Schach-Weltmeisterschaft der Geschichte  ■ Von Hartmut Metz

Groningen (taz) – Es ist Fußball-Weltmeisterschaft, und Brasilien sowie Deutschland boykottieren den Wettbewerb. Überdies wird Argentinien für das Finale gesetzt, die anderen Teilnehmer ermitteln lediglich noch den Endspielgegner. Undenkbar? In der weltweit populärsten Sportart ja, beim sogenannten königlichen Spiel geschieht exakt dies ab heute in Groningen.

In den Niederlanden verzichtet der Schach-Weltverband FIDE erstmals seit 1886, als sich Wilhelm Steinitz nach einem 10:5-Sieg über Johannes Zukertort selbst zum ersten offiziellen Weltmeister ausrief, auf ellenlange Zweikämpfe über 20 und mehr Partien. Bei der ersten K.o.-WM duellieren sich die 100 Qualifizierten nur in zwei Begegnungen, im Falle des Gleichstands folgen am dritten Tag Schnellpartien. Lediglich das Finale im Olympischen Museum in Lausanne (Schweiz) vom 2. bis 9. Januar geht über sechs Partien. Am Sitz des IOC hofft FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow auf eine weitere Annäherung an den mächtigsten Sportverband der Erde, nachdem bereits seit geraumer Zeit Tuchfühlung besteht.

Just an dem Finale in Lausanne erhitzen sich die Gemüter. Die führenden Großmeister störten sich daran, daß Anatoli Karpow dafür gesetzt ist, und taten dies auch vergeblich in einem Brief an die FIDE kund. Während sie in Groningen eine dreiwöchige Knochenmühle überstehen müssen, kann der FIDE-Weltmeister in aller Ruhe des Gegners harren, der auf ihn zukommt. „Karpow wird ein nicht zu akzeptierender Vorteil eingeräumt“, befand der Weltranglistenzweite Wladimir Kramnik (Rußland) und zog seine Zusage für die WM ungeachtet der rund 2,5 Millionen Mark Preisgeld für den neuen Weltmeister zurück. Karpows Erzrivale Viktor Kortschnoi (Schweiz), der dem Russen dreimal bei Weltermeisterschaften unterlag, setzt noch einen drauf: „Karpow würde niemals ins Finale kommen. Wegen seines Alters verliert er an Spielstärke!“ muß sich der 45jährige Weltranglistenfünfte ausgerechnet von dem 21 Jahre älteren „Dinosaurier“ des Schachs sagen lassen.

Obwohl „Viktor der Schreckliche“ das alte WM-System mehr schätzt und die fünf Millionen Dollar Preisgeld ungewiß scheinen – mancher Insider schwört, daß die Schecks des undurchsichtigen Iljumschinow, der auch Kalmückien als Präsident nach Gutsherrernart regiert, nicht gedeckt sind – reizt ihn der Wettbewerb in Groningen als „eine Art Weltcup“.

Für das Tohuwabohu abseits der 64 Felder sorgte wie gewohnt die wahre Nummer eins: Garri Kasparow. Seit der Weltranglistenerste 1993 begann, einen eigenen WM-Zyklus zu vermarkten, stecken die Weltmeisterschaften in der Krise. Der gebürtige Aserbaidschaner reklamiert den WM- Thron – wie auch Bobby Fischer nach 25 Jahren Turnierabstinenz – ausschließlich für sich. Ob und wann der 34jährige seinen „Privatbesitz“ unter der Regie seiner mittlerweile gescheiterten Profischach- organisation PCA verteidigt, steht in den Sternen. Fakt bleibt, daß er durch seinen Verzicht auf eine Teilnahme der K.o.-WM die Legitimation raubt. Bei Kasparows Zustimmung wäre er wie Karpow für das Halbfinale gesetzt worden, und dann hätte auch der 22jährige Kronprinz Kramnik mitgespielt.

So aber hinterläßt der Weltranglistenerste, der sich gerne als die PR-Maschine des Schachs sieht, wieder einmal zerschlagenes Porzellan. Wie ein übermütiger Elefant trompetete er nach seinem letzten Turnier in Tilburg über mehrere WM-Qualifikanten: „Gegen Piket, van Wely oder Shaked kann ich simultan spielen.“ Er habe ihre Parteien angeschaut und sich „von der schrecklichen Qualität eine Vergiftung zugezogen“, rang Kasparow nach einer Erklärung für seine schwache zweite Turnierhälfte und den verpaßten alleinigen ersten Rang: „Als ich sah, wie sie Schach spielen, standen mir die Haare zu Berge.“ Als ähnlich haarsträubend empfanden andere allerdings Kasparows Ausflüchte.