Mit dem Namen Willy Brandt zu neuen Visionen

■ Günter Grass, Egon Bahr und andere gründen Willy-Brandt-Kreis für linke Europapolitik

Berlin (taz) – Günter Grass, Peter Brandt und er seien der Ansicht gewesen, daß die „Unabhängigkeit des Denkens“ bewahrt werden müsse. Mit diesem Satz eröffnete Egon Bahr gestern im Berliner Willy-Brandt-Haus den Aufruf zur Gründung des Willy-Brandt-Kreises.

Es gehe darum, dem am Ende des Jahrhunderts auftretenden Mangel an Orientierung entgegenzutreten. Dafür stehe der „Visionär“ Willy Brandt, in dessen Namen sich Politiker, Wissenschaftler und Künstler zum Willy-Brandt- Kreis zusammengeschlossen haben. Gründungsmitglieder der überparteilichen Initiative sind neben Grass und Bahr auch Friedrich Dieckmann, Daniela Dahn, Oskar Negt, Jens Reich, Christa Wolf, Klaus Staeck und Friedrich Schorlemmer. Einige von ihnen hatten seinerzeit auch den Erfurter Appell unterzeichnet, der zu einer politischen Wende in Bonn aufgerufen hatte.

Der frühere Brandt-Vertraute Bahr betonte, daß der Kreis nicht als Wählerinitiative für die SPD mißverstanden werde dürfe. Vom Brandt-Kreis könne auch die Initiative zu einer künftigen Europapartei ausgehen. Der Zusammenschluß stellte sich mit einem Deutschland- und einem Europapapier vor. In ihrem Deutschlandpapier kritisieren die Autoren Daniela Dahn und Edelbert Richter das Abfließen von DDR-Vermögen in den Westen. Die mentalen Folgen der ökonomischen Spaltung zwischen Ost und West seien keineswegs beseitigt. Seine Teilnahme an dem Kreis begründete Grass auch mit der Erfahrung, daß die Vereinigung „in den Sand gesetzt“ worden ist.

Das Europapapier von Peter Brandt, Günter Minnerup und Claus Noé versteht sich als Neuorientierung für die Europapolitik der Linken. „Nicht die Schaffung, sondern die Abschaffung der Arbeit wird von den Finanzmärkten belohnt. Zugleich werden die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens weltweit untergraben“, heißt es dort. Die Arbeit der Prominenten besteht vorerst in monatlichen Treffen. Es sollen Diskussionspapiere entstehen und Veranstaltungen organisiert werden. Auf die Frage, ob sich der Kreis überwiegend älterer Männer auch an jüngere Generationen wendet, die Willy Brandt nicht mehr erlebt haben, sagte Bahr: „Die Fackel muß weitergegeben werden.“ Harry Nutt