Kims Mörder verurteilt

Der Mörder der zehnjährigen Kim Kerkow aus Varel kann darauf hoffen, nach 15 Jahren freigelassen zu werden  ■ Aus Oldenburg Jürgen Voges

Eine Therapie des Angeklagten habe der Justizvollzug zu gewährleisten, sagte der grauhaarige Kammervorsitzende Rolf Otterbein gegen Ende seiner Urteilsbegründung. Zusammengekauert, den Kopf weit nach vorn gebeugt – so verfolgte der Angeklagte Rolf Diesterweg, der Mörder des zehnjährigen Mädchens Kim Kerkow, das Ende der mehr als zweistündigen Begründung. Ernst, aber ohne jede äußerliche Regung stand der 34jährige noch da, als die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Oldenburg das Urteil verkündete – lebenslänglich wegen Mordes, Kindesmißbrauchs, sexueller Nötigung und Freiheitsberaubung.

Danach sank der dunkelhaarige, jung wirkende Mann auf der Anklagebank immer mehr in sich zusammen, verbarg sich hinter oder unter Händen und Armen. Er schien den Vortrag des 54jährigen Kammervorsitzenden für die Aufzählung seiner Taten nicht hören zu wollen. Dennoch ist das gestrige Urteil des Landgerichts Oldenburg wohl so günstig für den Angeklagten ausgefallen, wie es ein „lebenslänglich“ nach einem grausamen Mord an einer Zehnjährigen noch sein kann. So sah dies gestern zumindest Rechtsanwalt Reinhard Nollmann, der Verteidiger des Angeklagten. Die Kammer hat Diesterweg für seine Sexualdelikte eine eingeschränkte Schuldfähigkeit zugebilligt. Für die Ermordung der zehnjährigen Kim sah sie ihn als voll verantwortlich an. Deswegen wird er jetzt nicht in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, was für einen Sexualmörder in der Regel tatsächlich einen lebenslangen Einschluß bedeuten würde. Diesterweg werde seine Strafe in der Justizvollzugsanstalt Celle I zu verbüßen haben, sagte Richter Otterbein. Angesichts der „nicht widerlegbaren Krankheit“ des Angeklagten könne man auch nicht von einem Mord mit „besonders schwerer Schuld“ sprechen. Für den Angeklagten bedeutet dies, daß das „lebenslänglich“ nach 15 Jahren und nicht erst nach 20 Jahren auf den Prüfstand kommt. Der Kammervorsitzende, der gestern eigens für die Urteilsverkündung einen Krankenhausaufenthalt unterbrach, hat den Angeklagten zwar krank genannt, aber eine „sexuelle Abartigkeit mit Sicherheit“ verneint. Dennoch sprach er von einer „erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit“ bei den vier verurteilten Sexualstraftaten. Diesterweg hatte am Anfang des achttägigen Prozesses nicht nur gestanden, das zehnjährige Mädchen vor deren Ermordung zweimal mißbraucht zu haben. Er hatte auch den Mißbrauch eines 13jährigen Jungen und die Entführung einer Elfjährigen eingeräumt.

In den acht Tagen vor der 5. Großen Strafkammer ist größtenteils unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt worden. Den genauen Hintergrund der Taten hat auch die Urteilsbegründung gestern nicht aufhellen können. Wenn er auf die Persönlichkeit und die Motive des Angeklagten zu sprechen kam, beschränkte sich Richter Otterbein weitgehend darauf, dessen eigene Angaben zur Person und Lebensgeschichte zu widerlegen.

Diesterweg selbst hatte eine unglückliche Kindheit und einen traumatischen Heimaufenthalt im Alter von vier Jahren für seine „Krankheit“ verantwortlich gemacht. Der Kammervorsitzende maß diesem Heimaufenthalt keine Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung zu, attestierte gar dem Angeklagten, „in guten, stabilen Familienverhältnissen aufgewachsen zu sein“. Die psychologischen Erklärungsversuche, die der Angeklagte für seine Taten geliefert hatte, wies Otterbein als unglaubhaft oder als aus Büchern übernommen zurück. Statt dessen zeichnete er das Bild eines verlogenen, berechnenden und hochintelligenten Täters, der jederzeit in der Lage sei, seine Umgebung über sich selbst zu täuschen. Letztlich erklären konnte Otterbein die Taten Diesterwegs allerdings nicht. „Um die vorangegangenen Sexualstraftaten zu verdecken, habe der Angeklagte Kim Kerkow ermordet“, sagte der Vorsitzende. Die genauen Motive der Tat lägen aber „nach wie vor im dunkeln“.

Vor dem Oldenburger Gerichtsgebäude ließen gestern gut 50 Demonstranten von der Initiative Kim schwarze Ballons aufsteigen und schlugen während der Urteilsverkündung alle Viertelstunde eine Kirchenglocke an. Ein Sprecher der Initiative nannte später das Urteil skandalös, weil es Diesterweg die Aussicht auf eine Haftentlassung gebe, bevor dieser ein Greis sei. Der Anwalt der Eltern des ermordeten Mädchens, Christian Landowski, bezweifelte, daß der Täter im Celler Gefängnis therapiert werden kann: „Dort gibt es einfach keine Therapie für Sexualstraftäter.“