Katholik im Taumel

■ Staatsorchester braust durch die Glocke auf den Schwingen von Olivier Messiaen

Blick auf die Uhr, 9.10 Uhr, der achte von zehn Sätzen ist geschafft, der rechte Stapel von Günter Neuholds Partitur schrumpft deutlich, rechtes Bein auf linkes Bein geworfen, linkes Bein über rechtes Bein drappiert, um bei sich selbst ein wenig Ruhe zu finden, – dezentes Auflachen beim weniger dezenten Aufjaulen des elektronischen Instruments Ondes Martenot, Schluß und Klatschen, die Musiker tragen ja keine Schuld: Die üblichen Zeichen kultivierter Genervtheit machen sich in den vorderen Sitzreihen der Glocke breit, als das Philharmonische Staatsorchester seinen Pflichten gegenüber der Moderne – hörbar mit Freuden – nachkam und Messiaens Turangalîla-Sinfonie zum Aufbrausen brachte.

50 Jahre ist das prä-postmoderne Ideenfeuerwerk des französischen Ornithologen, Zahlenzauberers und katholischen Mystikers alt – und sägt noch immer am Nerv so manches Klassikliebhabers. Eine fröhlich-ekstatische Widerlegung von Adorno und allen anderen Kulturpessimisten. Es gibt die Avantgarde, die noch Generationen später verstört! Wie seltsam, wenn man aus dem Programmheft erfährt, daß bei den Zeitgenossen keineswegs die Avanciertheit der Turangalîla-Sinfonie aneckte. Die Musikkundigen der Nachkriegszeit stöhnten über das Kitschpotential des melodischen Materials.

Und tatsächlich sind die genervten Beinüberschlager kaum überanstrengt durch freie Tonalität. Eher quält die Ereignisdichte all jene, die es gewohnt sind, den Überblick zu behalten. Der nämlich geht flöten, posaunen und clustern im Ansturm der Klänge. Der Zuhörer fühlt sich im Zentrum einer Straßenkreuzung: Schnelles und Langsames, Rührendes und Beeindruckendes zieht an ihm vorbei in einem Tempo, das nur noch Staunen zuläßt. Und keine Ampeln weit und breit, die Vorfahrten regeln. Der Kontrabaß begnügt sich keineswegs immer mit verordneter Fundamentfunktion, sondern geht schonmal seinen eigenen Rhythmen nach. Unvorbereitet wird der Klangflaneur überrumpelt von neuen Takten und Instrumentalgruppen.

Ironische Freude an wilden Kontrasten blitzt jede Sekunde durch. Daß das Zwitschernde einer Flöte konterkarriert wird von der Brummbärigkeit eines Fagotts, sprengt Erwartungen im Rahmen des Erwartbaren. Wenn dann aber von der Schlagzeug-Crew noch magische Gongklänge einerseits, trockene Schläge andererseits kommen, geraten die Emotionen ins Trudeln.

Die Sinfonie leuchtet beschwipst im Mut zum Überfluß. Auch gibt es keine Angst vor beckenverstärkten Höhepunkten und satten happy-end-Kitschschlüssen. Die größte Bedenkenlosigkeit gegenüber dem großen Sentiment beweist aber das Ondes Martenot im sechsten Satz. Nicht umsonst setzte Hitchcock das elektronisch-mystische Instrument gerne bei lieblichen Szenen mit bedrohlichem Subtext ein. Oft als Unterbewußtes der gleichlaufenden Streicher operierend, kitzelt sein Vibrato an tiefsitzender Lust am Dahinschmelzen. Alles in allem ein Mut zum Kitsch, zum satten Durhöhepunkt, zum martialischen Losschmettern, den sich heutige darmstadtgeschädigte Komponisten erst langsam wieder erkämpfen. Insofern kann man die Turangalîla-Sinfonie vielleicht erst verstehen nach Pop-Art, Schlagerrevival und anderen Schundrehabilitationen.

Die Truppe von Günter Neuhold jedenfalls stürzt sich in die übermütige Stimmung- und Stilmixtur mit großem Vergnügen. Barbara Kern