Regieren aus der kasachischen Steppe

Kasachstan hat eine neue Hauptstadt. Nur ausländische Politiker sind noch nicht nach Akmola umgezogen  ■ Aus Akmola Per Brodersen

In großen roten Leuchtlettern prangt der Name der nordkasachischen Stadt Akmola am Bahnhofsdach und will mit seinem Schein vermutlich neue, wärmere Zeiten verheißen. Doch aus dem Fenster des Bahnhofshotels fällt der Blick auch auf die demontierten alten Buchstaben, die in der Winterkälte vor sich hin rosten. Das Alte und das Neue liegen in Akmola dicht beieinander.

Als Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew 1995 beschloß, die Hauptstadt der früheren Sowjetrepublik vom südlichen Almaty ins 1.000 Kilometer nördlichere Akmola zu verlegen, nahm man ihn nicht besonders ernst. Jetzt, zwei Jahre später, wird fleißig gebaut, recken sich in Akmola Kräne in den Himmel. Heute ziehen Präsident und Regierung offiziell um. In Almaty werden Staatsflagge und Standarte des Präsidenten eingeholt, morgen soll der eigens für diesen Anlaß bereitgestellte Sonderzug Akmola erreichen. Dann findet auch die erste Sitzung von Parlament und Regierung in Kasachstans neuer Hauptstadt statt. Bereits umgezogen sind Innen-, Landwirtschafts- und Eisenbahnministerium, ebenso der Oberste Gerichtshof.

Schon im Oktober sollte der Umzug über die Bühne gehen. Doch weder Nasarbajews Privatdomizil konnte bis dahin fertig verputzt werden, noch war das Eingangsportal des Präsidentenpalastes mit Marmor verkleidet. Also verschob man die gesamte Aktion kurzerhand auf Dezember. Doch auch dieser Termin sei nicht besonders gut gewählt, bemerkt ein kasachstanischer Diplomat: „Die werden ganz schön frieren!“

Akmola, der Name bedeutet „weißes Grab“, liegt in der Steppe, wo die Temperaturen schon mal unter minus 30 Grad Celsius fallen. Stets weht ein kräftiger Wind durch die mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Als der KP-Generalsekretär Nikita Chruschtschow in den sechziger Jahren seine Kampagne zur Neulandgewinnung startete, wurde Akmola in „Zelinograd“ („Brachlandstadt“) umbenannt. Tausende von Neusiedlern errichteten dreistöckige „Chruschtschowki“, wo sie noch heute wohnen.

Aber weder Chruschtschows Kampagne noch der neue Hauptstadtstatus haben Akmola mit seinen 300.000 EinwohnerInnen den provinziellen Charakter nehmen können. Die Stadtsilhouette wird geprägt durch rauchende Schornsteine und unzählige Getreidesilos. Ein westlicher Reiseführer weist als Sehenswürdigkeit lediglich das örtliche Geschichtsmuseum sowie das für Kunst und Literatur aus.

Warum soll also Akmola Hauptstadt des seit 1991 unabhängigen Kasachstans sein? „Die Gründe liegen in der guten Eisenbahnanbindung Richtung Rußland. Außerdem ist hier das Stadtgebiet in seiner Entwicklung räumlich nicht eingeschränkt wie Almaty durch das im Süden gelegene Tien-Shan-Gebirge“, erklärt Oral Karpischew, dessen Beamtenzimmer im Rathaus von Akmola eine Büste des Geheimdienstgründersgründers Felix Dserschinski ziert. „Und hier ist die Luft viel besser!“

Aber noch andere Motive soll es geben: Im Gegensatz zu Almaty, das nur 200 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt ist, liegt Akmola im Zentrum des Landes – mit dem Umzug entkäme der Regierungssitz der bedrohlichen Nähe von Kasachstans großem Nachbarn und ewigem Angstgegner China. Außerdem befindet sich die neue Hauptstadt in einer seismisch sicheren Zone, Almaty dagegen wurde bereits zweimal durch Erdbeben zerstört.

Das größte Gewicht dürften allerdings zwei innenpolitische Gründe besitzen: Aus dem 15. Jahrhundert stammt die Aufteilung der Kasachen in „Horden“, mit denen ein Großteil der Bevölkerung sich noch heute identifiziert. Weil Präsident Nasarbajew zur „Großen Horde“ im Süden des Landes gehört, will er Ausgleich schaffen – mit einer Hauptstadt im Territorium der „Mittleren Horde“ im Norden. Außerdem leben hier viele der im Lande verbliebenen Russen. Diese große Minderheit soll verstärkt berücksichtigt werden; gleichzeitig will man mit dem Umzug russische Gebietsansprüche an Kasachstans Norden entkräften.

Aus den Fenstern ihrer „Chruschtschowki“ können die BewohnerInnen Akmolas die Bauarbeiten am Parlamentsgebäude und dem bezeichnenderweise wesentlich größeren Präsidentenpalais mitverfolgen. Das Ensemble der Regierungsgebäude im Stadtzentrum wirkt wie implantiert: Verspiegeltes Glas und Marmorfassaden bilden einen merkwürdigen Kontrast zu den verstaubten Wohnhäusern ringsum. Während auf der Staatsbaustelle Millionen verbaut werden, fällt im Kaufhaus nebenan die Kunststoffverkleidung von der Decke.

Der eigens für den Umzug geschaffene Fonds „Neue Hauptstadt“ mit einem Volumen von 200 Millionen US-Dollar reichte für die Finanzierung der Umbauten zwar nicht aus. Dennoch gehen die Umzugsarbeiten emsig weiter, trotz offizieller Verlautbarungen, nur Geld aus dem Fonds werde verwendet.

Viele EinwohnerInnen Akmolas hoffen nun auf eine bessere Versorgungslage. Pelzmäntel an kalten Abenden in dunklen Küchen sollen bald der Vergangenheit angehören. Aber nicht ohne Zweifel und Schadenfreude erzählt man sich, wie ein westlicher Diplomat nur mit einer Kerze ausgerüstet in den dunklen Etagengängen seines Hotels angetroffen wurde. Er sollte die Bedingungen für die Umsiedlung seiner Botschaft erkunden. Wen wundert es da, daß der Umzug von Auslandsvertretungen aus Almaty nach Akmola auf sich warten läßt?