Samenschwund im Wald

Die Luftverschmutzung zerstört die genetische Vielfalt und die Fortpflanzungsfähigkeit von Bäumen. Tannen in Sachsen sind schon akut vom Aussterben bedroht  ■ Von Annette Jensen

Berlin (taz) – Bäume sind immobil. Deshalb müssen ihre Fortpflanzungspartner in der Nähe stehen. Außerdem leben sie oft einige hundert Jahre und sind währenddessen vielfältigen Umweltbedingungen ausgesetzt, ohne daß sie ausweichen können. Mehr als andere Organismen sind Bäume deshalb auf eine hohe Anpassungsfähigkeit angewiesen, mit der sie die Natur jedoch bedacht hat: Die Variantenvielfalt der befruchteten Eizellen bei Bäumen ist fünfmal so groß wie beim Menschen.

Doch saurer Regen, Ozon und andere Schadstoffe greifen diese genetische Ressource aller hierzulande wachsenden Waldbäume an – und das auf vielfältige Weise. Zum einen gehen die empfindlichen Vertreter einer Art ein, so daß sie ihre in anderen Zeiten günstigen Erbinformationen nicht mehr weitergeben können. Zweitens verlieren viele Bäume auch die Fähigkeit, bestimmte Gene weitergeben zu können. Das fällt zunächst gar nicht auf, weil die Eigenschaft des anderen Elternteils ausgeprägt wird. Doch das verlorengegangene Gen könnte der Nachkommenschaft später einmal fehlen – dann nämlich, wenn gerade diese Eigenschaft zum Überleben der Art günstig ist.

Bei Untersuchungen von Buchen aus verschiedenen deutschen Mittelgebirgen haben Forscher eine erschreckende Entdeckung gemacht: Die Sämlinge wiesen einen Genverlust von 17 Prozent auf. Hochgerechnet auf die folgende Generation bedeutet das, daß die Kombinationsmöglichkeiten von Erbanlagen um ein Viertel abgenommen haben.

„Wenn wir merken, daß eine Fähigkeit verlorengegangen ist, wird es zu spät sein“, sagt Heinz- Detlef Gregor, Waldexperte beim Umweltbundesamt (UBA). Denn anders als bei kurzlebigen Pflanzen mit raschen Generationenfolgen kann das Saatgut von Bäumen kaum ausreichend lange in Genbanken gelagert und später wieder eingekreuzt werden. Denn die Samen bleiben nicht über Jahrhunderte keimfähig.

Doch die Immissionen der Industriegesellschaft schädigen auch die Fruchtbarkeit der Bäume und damit die Zahl genetisch verschiedenartig ausgestatteter Keimlinge. Forscher haben zum Nachweis durch Klonung erbgutidentische Pappeln hergestellt. Die eine Gruppe haben sie in guter Luft aufwachsen lassen, die andere dagegen mit hohen Schadstoffmengen begast. Besonders kümmerlich war die Samenausbeute, wenn die Pappeln während der Blütezeit in einer Schwefeldioxidwolke standen. Ozon dagegen war dann besonders schädlich für die Samenmenge, wenn es zur Zeit des Pollenschlauchwachstums auf die Bäume einwirkte. Nur zehn Prozent der Eizellen konnten befruchtet werden, während es in sauberer Luft 70 Prozent gewesen wären. Und: Je nach Schadstoff haben bestimmte genetische Informationen eine bessere oder schlechtere Chance, überhaupt in den Samen gespeichert zu sein. Auch die abnehmende Fruchtbarkeit führt somit unmittelbar zur Generosion.

In Sachsen wachsen heute gerade noch 2.000 geschlechtsreife Tannen – vor drei Jahrhunderten war noch jeder dritte Baum im Freistaat eine Tanne. Extreme Luftverschmutzung und eine rücksichtslose Forstwirtschaft haben den Bestand reduziert. Daher stehen die übriggebliebenen Tannen inzwischen so weit auseinander, daß sich fast immer dieselben Bäume gegenseitig befruchten. 95 Prozent der Körner in den Tannenzapfen sind hohl. Die Folge: Die genetische Vielfalt der Nachkommen ist extrem gering. „Inzuchtdepression“ nennen das die Fachleute.

Ein rein konservierender Naturschutz wird das Ende der Tannen in Sachsen bedeuten, sagen Forscher voraus, die mit Computersimulationen die Zukunft bestimmter Wälder bestimmen. Sie empfehlen deshalb die Beimischung von Samen aus anderen Gebieten, damit die genetische Vielfalt und damit die Anpassungsfähigkeit der sächsischen Tannen wieder erweitert wird.

Weil Bäume lange leben und das Ergebnis von Züchtungen und die Folgen von Schadstoffen erst Jahre später untersucht werden können, sind die Forscher auf Modellrechnungen angewiesen. Deshalb hat das Umweltbundesamt die Entwicklung des Computerprogramms Öko-Gen unterstützt, in das die genetischen Daten von 12.000 Einzelbäumen eingegangen sind. Umweltschützer, Forstbesitzer und Landschaftsplaner können hier Informationen über bestimmte Wälder eingeben und ausrechnen lassen, welche Maßnahmen zur langfristigen Sicherung des Bestands wichtig sind.

Öko-Gen ist auch eine Absage an die Forderung der Politik in den achtziger Jahren, Bäume zu züchten, die den Dreck der Industriegesellschaft möglichst gut vertragen. „Das wäre unsinnig, weil viel zu kurz gedacht“, sagt Heinz-Detlef Gregor. „In 50 Jahren sind vielleicht ganz andere Eigenschaften vonnöten.“ Auch ein anderes Rettungsprogramm, das einige Waldmanager ernsthaft vorschlagen, hält der UBA- Experte für unsinnig: deutsche Baumpopulationen zu evakuieren. In einer Gegend mit ähnlichen klimatischen Bedingungen wie hierzulande sollen einige Hektar mit Eichen, Buchen, Birken und Eschen bepflanzt werden, so der Plan. Auf diese Weise sollen die genetischen Ressourcen deutscher Wälder in reinerer Luft erhalten bleiben. Chile erscheint diesen Waldrettern als besonders günstiges Asylland. Doch Gregor hält diesen Plan nicht nur für technisch undurchführbar. Er stelle auch eine Gefahr für das genetische Gleichgewicht in der Evakuierungsgegend dar.

„Langfristig gibt es nur eine Möglichkeit zur Rettung der deutschen Wälder: Wir müssen die Luftverunreinigung und die Versauerung der Böden stoppen.“ Kommentar Seite 12