Merkel rechnet Leukämiekranke gesund

■ Kinder unter fünf Jahren, die im Umkreis von AKWs leben, erkranken dreimal häufiger als andere an Leukämie. Das geht aus einer Studie hervor, mit der die Ministerin beweisen wollte, daß es kein erhöhtes Leukämierisiko gibt

Hannover (taz) – Im Nahbereich von bundesdeutschen Atomkraftwerken sind zwischen 1980 und 1995 rund dreimal mehr kleine Kinder an Leukämie erkrankt, als es statistisch zu erwarten war. Zu diesem – bisher verschwiegenen – Ergebnis kommt die Großuntersuchung über Leukämie im Kindesalter, die der Mainzer Professor Jörg Michaelis vom Institut für medizinische Statistik im Auftrag der Bundesumweltministerin durchgeführt hat. Angela Merkel hatte genau diese epidemiologische Studie, die die Daten des deutschen Kinderkrebsregisters auswertet, vor knapp zwei Wochen mit den Worten vorgestellt, in der Nähe von bundesdeutschen Kernkraftwerken gäbe es für Kinder kein erhöhtes Leukämierisiko. Dies sei durch die Studie wissenschaftlich untermauert. Weitere Untersuchungen seien überflüssig.

Die Studie selbst weist jedoch in ihrem Tabellen- und Textteil im Umkreis von fünf Kilometern um die deutschen Atomkraftwerke für Kinder unter fünf Jahren ein um den Faktor 2,87 erhöhtes Leukämierisiko aus. Dieser Befund legt zumindest nahe, daß knapp zwei von drei Leukämiefällen bei kleinen Kindern im Nahbereich von AKWs auf die Kraftwerke zurückgehen. In der Zusammenfassung der Studie, die an die Presse verteilt wurde, wird dieses Ergebnis nicht erwähnt.

Professor Jörg Michaelis bestätigte auf Anfrage der taz: „Die Risikoerhöhung ist statistisch signifikant.“ Der Mainzer Epidemiologe widersprach damit der Zusammenfassung seiner eigenen Studie, in der „statistisch signifikante Ergebnisse für die vieldiskutierte Beobachtung einer Häufung von Leukämie bei Kindern unter fünf Jahren in der Nahumgebung“ explizit in Abrede gestellt werden. Der Tabellenteil der Studie weist allerdings eine hochsignifikante Risikoerhöhung für die im Nahbereich wohnenden Kleinkinder aus.

Die lückenhafte Zusammenfassung seiner Studie verteidigte Michaelis mit dem Hinweis, daß das festgestellte Krebsrisiko für kleine Kinder im AKW-Nahbereich in den letzten Jahren gesunken sei. In einer ersten Studie über die Leukämiefälle aus den Jahren 1980 bis 1990 habe er noch ein um den Faktor 3,2 erhöhtes Leukämierisiko bei kleinen Kindern im AKW-Nahbereich festgestellt. Dieses Risiko sei bei der zweiten, nun einen Zeitraum von 16 Jahren umfassenden Studie auf 2,87 zurückgegangen. Das zeige, daß zwischen 1990 und 1995 weitaus weniger kleine Kinder im Nahbereich erkrankt seien.

Demgegenüber warf der Münchner Professor Roland Scholz, Mitglied in der Expertenkommission zur Leukämiehäufung um das AKW Krümmel, Michaelis eine „Verdünnung kritischer Daten durch statistische Tricks“ vor. Michaelis habe in seine neue Studie vier AKWs aus der ehemaligen DDR einbezogen. Drei davon seien Miniforschungsreaktoren und um ein weiteres befinde sich im Fünf-Kilometer-Radius zu 60 Prozent die Ostsee. Alle vier seien im Fünf-Kilometer-Radius kaum besiedelt. Einen statistischen Verdünnungseffekt durch die Ausweitung des Untersuchungsgebiets auf die Ex-DDR stellte auch Michaelis selbst nicht in Abrede. Diese sei eine Vorgabe seines Auftraggebers, des Bundesumweltministeriums, gewesen, sagte er lediglich. Michaelis' Studie diagnostiziert außerdem im Fünf- Kilometer-Radius um die seit 1980 ans Netz gegangenen AKWs für Kinder bis 14 Jahre ein fünffach erhöhtes Leukämierisiko. Diese Erhöhung ist nach seinen Angaben aufgrund geringer Fallzahlen allerdings nicht mehr statistisch signifikant. Die Leukämiekommissionen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein wollen die gesamte Studie jetzt von einer Gruppe von Epidemiologen prüfen lassen.

Jürgen Voges Kommentar Seite 12