Eine hügelige Ebene mit nur einem Berg

■ Das 12. Internationale Sommertheater auf Kampnagel ging am Wochenende zu Ende / Ein Rückblick

Es hätte soviel schöne Geschichten, erinnerungsgesättigte Bilder und Betrachtungen über den Fetisch Schallplatte gegeben: die Behauptung einer amerikanischen christlichen Sekte aus den 70ern beispielsweise, man würde, wenn man Platten der Rockgruppe Black Sabbath rückwärts spielen würde, den Teufel sprechen hören – eine These, die später immer wieder, zuletzt bei Prince Sing O' The Times-Album, aufgestellt wurde. Oder die geheimen Botschaften, die Gruppen und Plattenpresser in die Auslaufrille ritzten (von „Rock'n'Roll will never die“ bis zu geheimen Schriftzeichen) und die viele Plattenkäufer niemals entdeckt haben. Man hätte etwas über die Kunst des Covers oder die Weigerung mancher Klassikinterpreten, überhaupt Schallplatten aufzunehmen, erzählen können, über die erregenden jugendlichen Momente, wo man in einer großen Plastiktüte seine Schätze nach Haus trug und erstmals auflegte, oder über die Single-Automaten, in die man sich mit seinem Wimmerholz setzen konnte, um ein Unikum pressen zu lassen. Man hätte die Reisen der russischen Propaganda-Züge nach der Revolution zeigen können, die Lenin-Reden über ein Grammophon an die Bauern brachten, oder über die Märchenplatte, die Raubpreß-Subkultur oder die DJs, die Hierophanten des Vinyl-Kultes, einige Szenen entwerfen können. Man hätte, man hätte, man hätte...

Das großkotzig Vinyl Requiem benannte Projekt der beiden Briten Philip Jeck und Lol Sargent, mit dem das Sommertheater am Wochenende sein Finale hätte finden sollen, scheiterte nicht an diesem weiten Feld, es machte sich überhaupt erst gar nicht dahin auf. Statt dessen nahm man alte Platten von Slade bis Mussorgsky, verklebte absichtlich die Rillen, so daß künstliche Sprünge zu Endlosschleifen führten, und installierte 180 Schallplattenspieler (die man bei der schieren Langeweile des Projektes eigentlich hätte mal nachzählen können) zu einer weißen Wand. Hier mischten drei Krankenpfleger über eine Stunde lang verschiedene Exponate zu einem abwechslungslosen Klangmüll zusammen, der weniger ein Vinyl- als ein Infantil-Requiem ergab. Beliebige Film- und Dia-Projektionen steigerten die Ermattung noch so, daß ein kluger Japaner in der ersten Reihe bereits nach 10 Minuten eingeschlafen war. Der Selige.

Diese quälenden 70 Minuten einer aufgeblasenen Nicht-Idee (die natürlich auch die Chance zur sinfonischen Präzision oder zum Mitmach-Spiel für alle vertat) beendete ein Festival, das man vom künstlerischen Standpunkt her zum schwächsten der letzten Jahre erklären muß. Daß es dennoch ein kommerzieller Erfolg wurde (25.000 Besucher, 91 Prozent Auslastung), ist nur scheinbar ein Widerspruch, denn wie nie zuvor bestand das diesjährige Programm aus bekannten Namen: LaLaLa Human Steps, Meg Stuart, Wim Vandekeybus, Saburo Teshigawara, Bill T. Jones, Meredith Monk, EnDança, Frédéric Flamand und Fabrizio Plessi sorgten für das heimelige Gefühl der Vertrautheit, das die Vorfreude steigerte.

Daß diese freudige Erwartung sich dann in eine ebenso intensive Enttäuschung verwandelte, lag maßgeblich an zwei Dingen: Mit Saburo Teshigawaras ergreifendem Beinahe-Solo Here to Here hatte das Festival lediglich eine einzige Produktion aufzuweisen, die wirklich flammende Begeisterung hervorrufen konnte. Und zu entdecken gab es dieses Jahr fast nichts.

Beide Komplexe, die Präsentation des Besten was es in der Welt der Performing Arts gibt und die Pionier-Rolle beim Aufspüren neuer Trends und Gruppen, gehören aber zu dem hohen Eigenanspruch, den die Festivalleiter Gabriele Naumann und Dieter Jaenicke zu Recht für ihr dreiwöchiges Sommertheater proklamieren. Wenn man dann aber durch ein dezent gehügeltes Tal der Durchschnittlichkeit wandern muß, daß nur eine Spitze, aber doch einige Schluchten aufzuweisen hat, dann muß an die Leitung die Frage gehen: Woran liegt es?

Ob nun in 12 Jahren verfestigte Geschmacksstrukturen oder der desolate Zustand des Welttheaters das Mittelmaß verursachen, ob finanzielle Probleme es unmöglich machen, weiterhin das Beste einzukaufen und das Neueste zu unterstützen, sind Fragen, die hier nur spekulativ untersucht werden könnten, und deswegen unterbleibt es. Klären kann sie letztlich eh nur die Leitung mit einem spannenderen Programm für 1996.

Trotz dieses negativen Resümees muß doch einigen Produktionen Recht getan werden. So Meg Stuart/Damaged Goods, den vorjährigen Gewinnern des Mobil-Pegasus-Preises für die beste Produktion des Festivals. Ihre neue Produktion No One Is Watching hat trotz der Unfertigkeit des letzten Drittels des Stückes in dem bestimmten Insistieren auf das Beobachten auch dort, wo es weh tut, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Eine Überarbeitung dieser Choreografie läßt erwarten, hier ein weiteres bedeutendes Stück Tanztheater der 90er von der jungen amerikanischen Choreografin zu erhalten.

Auch der Choreografie von Bill T. Jones Still/Here, die im überregionalen Teil dieses Blattes einen ungerechtfertigten Totalverriß geerntet hat, weil der Rezensent Ansatz und Umsetzung verwechselt hat, soll hier noch einmal das Wort gesprochen werden. Natürlich gibt es bessere Arbeiten zum Thema Tod und Aids – etwa Reza Abdohs letztjährige Performance Quotations From A Ruined City. Aber in dem „Think Positive“-Konzept-Rahmen von Jones schuf seine Choreografie über den Lebenswillen Todkranker eine angenehm zurückhaltende und großartig getanzte Stimmung des Mutes und der Hoffnung, deren Berechtigung in diesem Zusammenhang eigentlich kaum pathosfreier transportiert werden kann.

Auch die chinesische Avantgarde-Gruppe Xi Ju Che Jian sollte weiter beobachtet werden, ob sie trotz der unmöglichen Produktionsbedingungen in der VR China ihren Ausdruck so erweitern kann, daß sich die notwendige Vermittelbarkeit und Spannung einstellt. Und der Perle des musikalischen Rahmenprogramms, Iva Bittová, soll der letzte lobende Satz dieses Abgesanges gewidmet sein.

Till Briegleb