■ Die jüdische Musiktradition währt nun 3.000 Jahre und ist so alt wie das jüdische Volk selbst
: Der Kantor: Für die Liturgie unersetzlich

Jüdische Musik wird heute oft mit der folkloristischen Instrumentalmusik der osteuropäischen jüdischen Musiker, der Klezmorim, in Verbindung gebracht.

Doch sind es nicht allein volksmusikalische Traditionen, auf die das aschkenasische, also das mittel- und osteuropäische Judentum zurückschauen kann. Es existiert auch eine liturgische Kultur, die für das jüdische Leben in Mittel- und Osteuropa charakteristisch war.

Die jüdisch-liturgische Musiktradition ist so alt wie das jüdische Volk selbst. Vor etwa 3.000 Jahren entstanden die Psalmengesänge. In der zweitausendjährigen Diasporageschichte der Juden haben sich verschiedene Linien herausgebildet. Die bekannteste Unterscheidung ist die zwischen den aschkenasischen Juden und dem sephardischen Judentum, dessen Wurzeln im Mittelmeerraum liegen.

Wesentlich für den synagogalen Gottesdienst ist die laute Verkündigung des Gotteswortes. Ein Kantor ist berufen, das öffentliche Gebet in der Synagogenversammlung zu leiten. Als Vorbeter führt er die Gemeinde durch das synagogale Gebet; er vertritt mit seiner Stimme die Gläubigen vor Gott. So ist der Kantor im jüdischen Gebet fast unerläßlich. Wenn ein Rabbiner fehlt, findet der Gottesdienst trotzdem statt – aber ohne Kantor ist er fast unvorstellbar.

Von den liberalen und reformierten jüdischen Gemeinden Europas verbreitete sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein moderner musikalischer Synagogenritus mit Kantor, Chor und Orgel.

Für die aschkenasische sakrale Musik wurde nun eine Verbindung von Solist und Chor zum Modell, das als musikalisches Pendant den Dialog von Kantor und Gemeinde abbildete. Mehrstimmige Chöre unterstützten den Kantor in seiner liturgischen Aufgabe. Jüdische Kantoren aus ganz Europa zeichneten das traditionelle Gesangsrepertoire der Synagoge in Notenschrift auf und schufen neue Kompositionen. In ihnen schlug sich auch der musikalische Zeitgeschmack nieder, doch blieb die Synagogenmusik stets der Tradition verpflichtet.

Zum Repertoire Estrongo Nachamas gehört nicht nur die synagogale Musik. Der Kantor von Berlin bezieht auch chassidische Lieder in seine Konzerte mit ein. Die Chassidim (wörtlich: „Die Frommen“) vertreten eine religiöse Neuerungsbewegung, die im Osteuropa des 18. Jahrhunderts entstand und eine volkstümliche Frömmigkeit vertrat. Die Lieder sind temperamentvoller und leichter zum Mitsingen geeignet als die getragenen synagogalen Gesänge. Andor Izsák

Der Autor ist Direktor des Europäischen Zentrums für jüdische Musik in Hannover