■ Er stammt aus Griechenland, wurde nach Auschwitz deportiert – und ließ sich trotzdem vor 50 Jahren überreden, in Berlin Kantor der Jüdischen Gemeinde zu werden: Estrongo Nachama. Ein Porträt Von Matthias Stausberg
: „Solange Gott will, singe ich“

Welch' Ironie: Kurz nach Ende des NS-Regimes bleibt ein griechischer Jude ausgerechnet in Berlin hängen, um dort zu einer geschätzten Person zu werden. Menschen gehen in seine Konzerte, nur um ihn zu sehen. Der Verehrte sagt: „Nachama bleibt Nachama. Zwei Füße auf dem Boden.“

Würdevoll spricht der Gemeindekantor das Traugelübde. „Harei At Mekudeshes Li B'taba'as Zo Kedas Moshe V'Yisrael.“ Unter der Chuppa, dem Traubaldachin, steht das Hochzeitspaar. Der Bräutigam wiederholt die Worte: „Schaue, du bist mir gewidmet mit diesem Ring nach den Gesetzen von Moses und Israel.“ Dann hebt der Kantor an zu einem getragenen Gesang, während sich die Kamera allmählich aus der Intimität des Augenblicks zurückzieht. Was bleibt, ist die klare Stimme des Sängers.

Nur kurz dauert die Hochzeitsszene in „Cabaret“. 25 Jahre sind vergangen, seit das Musical über das sieche Berlin am Ende der Weimarer Republik gedreht wurde. Doch gerade diese Szene ist vielen Menschen erinnerlich geblieben – auch wegen der Stimme von Estrongo Nachama – Kantor von Berlin, damals wie heute.

Im vorigen Juli feierte der alte Mann sein 50jähriges Jubiläum als Vorsänger der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 79 Jahre ist er. Hochdekoriert. Drei Bundesverdienstkreuze, Ehrungen aus aller Welt. Seine Gemeinde liebt ihn. Menschen kommen zu Konzerten, nur weil Estrongo Nachama dabei ist. Er hätte genug Grund, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen.

Doch der Mann ist für sein Alter noch erstaunlich rastlos. Mit schaukelndem Schritt geht der kleine alte Chasan durch das Jüdische Gemeindehaus in der Fasanenstraße im Berliner Bezirk Charlottenburg. „Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr“, sagt er leicht tadelnd. Eigentlich, so muß man seinen Satz verstehen, hat er keine Zeit. Wie so oft in diesen Tagen kommt er gerade von einer Beerdigung. Und gleich muß er auch wieder gehen.

Keine Zeit, ihm zum Dienstjubiläum zu gratulieren? Doch, doch. Ein halbes Jahrhundert lang hat Nachama als Kantor das öffentliche Bild der Berliner Gemeinde geprägt. Tag für Tag gestaltet er immer noch singend und betend Gottesdienste, Beerdigungen, Beschneidungen. Er ist längst zu einer Institution geworden.

Immerhin, er gewährt ein wenig Zeit. Seine grauen Haare sind glatt zurückgestrichen. Auch im Sitzen behält er seinen dunklen Mantel mit dem schwarzen Fellkragen an. Es ist etwas kühl. „Haben Sie keinen Mantel?“ fragt er fast vorwurfsvoll. Irgendwie fühlt man sich durch seine Art zu fragen ertappt.

Dann spricht er. Streicht seine Hände über die Tischplatte. Lehnt sich zurück, stützt sich dann mit einer Hand an der Kante ab. Seine Stimme ist zunächst laut und dramatisch, dann wieder leise und einfühlsam. In seinem Alter ist er immer Kantor, Seelsorger, Prophet und Großvater zugleich. Seine Sprachmelodie erweckt den Eindruck, als sei sein Leben ein langer Tanz gewesen. Viele Falten hat ihm das Leben gemacht. Im Guten. Im Bösen. Wenn Estrongo Nachama heute als „Kantor von Berlin“ gefeiert wird, soll man wissen, daß er einst als „Sänger von Auschwitz“ um sein Leben sang.

Geboren 1918, wuchs Nachama in Saloniki als Sohn eines Getreidehändlers auf. Schon mit sechs Jahren, so erinnert er sich heute, mußte er in der Synagoge zum ersten Mal singen. „Ich habe Angst gehabt, aber – war gut“, sagt er. Sein Akzent verrät noch heute seine griechische Herkunft.

Den Anstoß zur musikalischen Ausbildung bekam der junge Nachama von seiner Mutter. „Ich habe eine ängstliche Mutter gehabt“, sagt er. Sie wollte nicht, daß ihr Sohn zur Armee geht. „Meine Mutter hatte gehört, daß die Kantoren und die Rabbiner nicht eingezogen werden.“ So besuchte Nachama neben der jüdischen Schule dreimal in der Woche die Kantorenschule. Mit 18 hatte er das Kantorenzertifikat in der Hand. „Ich war froh und glücklich, habe viel Arbeit gehabt.“

Stolz sei er dann zur Musterung gezogen – um zu erfahren, daß die Ausnahmeregelung aufgehoben worden war. „Ich komme nach Hause, meine Mutter sieht mich als Soldat und fällt in Ohnmacht.“ Anderthalb Jahre Militärdienst folgten.

Dann der Kriegsausbruch 1939. Zuerst kamen die Italiener, dann die Deutschen. „Unser Geschäft wurde von der Ortskommandantur beschlagnahmt, einkassiert.“ Kurz darauf wurden Nachama und seine Geschwister zur Zwangsarbeit herangezogen. „Dann bekamen wir den gelben Stern.“ Diesen Satz spricht Nachama so, als grüble er. Die Pausen werden länger. Im März 1943 wurden die Juden von Saloniki von der SS deportiert. „Ohne Brot, ohne Anzüge, ohne Koffer, ohne gar nichts wurden wir zum Bahnhof gebracht.“ In Viehwaggons, acht Tage lang durch Osteuropa. Endstation: Auschwitz.

Was sie dort erwartete, wußte Nachama nicht. Noch an der Rampe wird er von seiner Familie getrennt. Er sah sie danach nie wieder.

Aus Auschwitz berichtet Nachama detailliert. „Aufstehen, hinlegen, aufstehen, hinlegen – sie haben uns gequält, verstehen Sie, die SS-Leute.“ Tagsüber muß er im Steinbruch von Goleschau schuften, nachts teilt er sich mit drei Gefangenen eine Pritsche. Während der Arbeit fällt Nachama auf – weil er singt. „Ich wurde ,Sänger von Auschwitz‘ genannt.“ Nicht nur von den Mitgefangenen: „Dann kamen die SS-Leute: ,Sänger, ist der Wagen voll mit Steinen?‘ ,Ja.‘ ,Dann komm rauf, ein Lied singen.‘ Das haben sie gerne gehört, die italienischen Lieder. Ich bin Spezialist für italienische Lieder. Dann gab's Brot, aber nicht auf die Hand, sondern es wurde auf den Boden geschmissen.“

Nachama weiß, daß es die Musik war, die ihm in Auschwitz das Überleben gesichert hat. „Ich habe gesungen für die Kapos, für die Lagerärzte, für die SS-Leute. Da bekam ich ein Stückchen Brot für, das war mein Leben. So wurde ich in Auschwitz gerettet. Nur deswegen.“

Doch mit Auschwitz war das Leiden nicht vorbei. Anfang Februar 1945 wurde er ins KZ Sachsenhausen transportiert. Wieder – Zwangsarbeit, Mißhandlungen. Fast hätte Nachama damals schon aufgegeben: „Der Sänger von Auschwitz sang nicht mehr. Gar nichts.“ Mehrmals wurde er erwischt, als er in der Küche Brot stahl. Die Wachleute hängten ihn kopfüber auf und prügelten ihn auf die Fußsohlen.

Mitte April kam dann der erneute Aufbruch. Noch in den letzten Kriegstagen wurden die Gefangenen auf den Todesmarsch Richtung Westen getrieben. Zwanzig Tage lang wanderten sie durch die Wälder, übernachteten im Freien. „Wir sind naß geworden, ich konnte nicht mehr vor Kälte.“ Täglich starben Mitgefangene an Erschöpfung, viele wurden von der SS erschlagen.

Dann die Erlösung: Die Überlebenden des Marsches treffen auf Soldaten der Roten Armee. Die Armisten sehen die Sträflingsanzüge, die eintätowierten Häftlingsnummern auf den Armen. „Sie haben uns gestreichelt, uns Anzüge gegeben, von den Deutschen natürlich, und zu essen. Noch und noch und noch und noch.“

Dann wollte Nachama so schnell wie möglich nach Hause, nach Saloniki. In der Nähe von Nauen steigt er in einen Zug, der ihn über Polen nach Griechenland zurückbringen soll. Aber am Berliner Bahnhof Lichtenberg endet für ihn die Reise. Nachama richtet sich auf einen kurzen Aufenthalt in Berlin ein. Doch kurz darauf erkrankt er an Typhus. Erst im Februar 1946 ist der inzwischen 28jährige wieder genesen. Am Bahnhof trifft er einen Mann mit Davidstern. Nachama fragt, wo er nach seiner Familie suchen kann. Man schickt ihn zum Gemeindehaus in der Oranienburger Straße. Dort wird er erkannt: „Bist der Sänger von Auschwitz, stimmt's?“ fragt ein früherer Mithäftling – und lädt ihn ein in die Synagoge in der Rykestraße.

Schon bald beginnt Nachama wieder zu singen. Der alte Oberkantor Golanin und auch der spätere Vorsitzende der Berliner Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, bitten ihn, in Berlin Kantor zu werden. Nachama hat zunächst keine Lust, er will lieber nach Griechenland zurück. Doch er läßt sich überreden. Er muß allerdings musikalisch die Traditionen Mitteleuropas lernen: „Wir hatten ja andere Melodien in Griechenland.“

Am 1. Juli 1947 tritt Estrongo Nachama seine Stelle als Hilfskantor in der Pestalozzistraße an. Vier Jahre später erfährt er die bittere Wahrheit. Auf einer Liste der in Auschwitz Ermordeten liest er die Namen seiner Familie. „Eltern, Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen – alle verloren“, sagt er klagend. Die Stirn legt sich in Falten, er legt die Hände ineinander. „Trotz Musik und fröhlicher Lieder denke ich bei Nacht an meine Eltern. Da kommen ein paar Tränchen runter, glauben Sie mir. Musik hin, Musik her, fröhlich hin, fröhlich her.“

Spätestens zu dem Zeitpunkt war für Nachama klar, daß er nicht mehr für immer nach Hause zurückkehren würde – und eine andere Heimat für sich gründen muß. „Geschäft ist weg, Haus ist verkauft. Es gab keine Wiedergutmachung“, sagt er. Saloniki – das war Vergangenheit. Nur eines gibt der Kantor lächelnd zu: Er wäre gerne Getreidehändler geworden, so wie sein Vater. „Ich habe diesen Beruf gelernt“, sagt er. Aber er ist zufrieden. „Ich bereue nicht, daß ich Kantor geblieben bin. Die Musik ist mein Leben“ – was er immer wieder betont.

Mit seiner Frau Lilly, einer geborenen Berlinerin, die sich erfolgreich vor den Nazis verstecken konnte, ist Estrongo Nachama seit 46 Jahren verheiratet. Stolz zieht Nachama das Hochzeitsfoto aus der mitgebrachten Mappe. Ein eingespieltes Ehepaar: Ob in der Synagoge oder auf Konzerten, immer ist sie dabei – eine charmante blonde Dame.

Das einzige Kind der beiden, Sohn Andreas, wird 1952 geboren. Der promovierte Historiker und Journalist ist mittlerweile Vorsitzender der Berliner Jüdischen Gemeinde, so etwas wie der intellektuelle Gegenpol zum musikalischen Vater. Der Sohn trägt zwar die Züge des Vaters, aber wo Estrongo Nachama erzählt, wird sein Sproß Andreas analytisch. Der erklärt: „Mein Vater hat beschlossen, ich sei unmusikalisch. Und wir sind dann schnell zu der Abmachung gekommen, mein Vater schreibt keine historischen Aufsätze, und ich singe nicht.“

Im Berliner Haus der Kulturen der Welt sind die Reihen an diesem Sonntag nachmittag nicht ganz gefüllt. Für Nachama spielt das keine Rolle. Egal ob zehn oder hundert Menschen – wenn es nur einer wäre, würde Nachama singen. Er bereitet sich akribisch auf die Konzerte vor. Morgens um halb sieben steht er auf. Er raucht und trinkt nicht. „Ich komme immer nüchtern zum Singen“, sagt er. Das sei wichtig für die Stimme. Im dunklen Anzug und mit gelbschwarzer Krawatte tritt er auf die Bühne, schreitet zum Mikrofon, verneigt sich vor seinem Publikum. Die Leute wissen, was sie erwartet. Sie kommen gerne und oft, denn jedes Konzert ist mehr als nur eine musikalische Darbietung. Mit Estrongo menschelt es. Er gibt den Zuhörenden das Gefühl, keiner steifen Liturgie beizuwohnen, sondern einem munteren Ereignis, das ernste Feierlichkeit nur in Maßen erlaubt.

Schon in der Pause ist Nachama umringt von Fans, oftmals Frauen. Er umarmt seine Freunde, als wolle er sie alle ins Herz schließen. Nachama bedeutet „Trost“ – und der alte Vorsänger scheint dem Namen gerecht zu werden.

Nachama ist auch ein Meister der Inszenierung, nicht nur in der Musik. Mit Selbstverständlichkeit gibt er an diesem Tag seine Zugaben, auch wenn das Publikum nicht gerade danach schreit. Sie danken es ihm trotzdem. Wenn er zu den Klängen von „Oj Jibane Hamikdasch“ durch den Saal tänzelt, seine Arme ausbreitet, den verdutzten Zuhörern das Mikrofon unter die Nase hält und sie zum Mitsingen auffordert, dann ist allein dies schon das Eintrittsgeld wert.

Nachama weiß, daß ihn die Menschen für diese Unterhaltsamkeit lieben. Gegen Ende des letzten Liedes kommt ein kleiner Junge auf die Bühne. Sofort nimmt der Kantor den Jungen in den Arm und wendet sich mit ihm dem Fotografen zu: Nachama – Medienprofi. Er weiß, was zu tun ist, wenn eine Kamera in der Nähe ist.

Was ihm Kraft zu geben scheint, ist offenbar, daß er heute noch ebenso gebraucht wird wie in den vergangenen fünf Jahrzehnten – Estrongo Nachama ist immer und überall willkommen. „Ich werde jeden Tag verlangt. Ich bin froh und glücklich, dieses Gute, soviel Mizwo getan zu haben.“ Doch wie kann er inmitten eines Landes leben, dessen Vorfahren seine Familie vernichtet haben? „Das ist mir sehr, sehr schwer gefallen“, sagt er dazu. Aber den Bitten seiner Freunde, die Gemeinde mitaufzubauen, wollte er sich nicht verweigern. „Gut, so bin ich geblieben“, sagt er.

Schon 1949 wird Nachama gefragt, ob er in einer Aachener Kirche singen könne. „Wie sollte ich nach Auschwitz in einer Kirche singen? Wie komme ich dazu?“ dachte er damals. Aber auch hier wollte er sich dem Dialog nicht entziehen. „Also, ich habe gesagt, ich werde singen. Ich werde die Hand reichen.“

Auf die Menschen zuzugehen ist vielleicht seine Stärke. Deutlich wird dies auch in der Synagoge in der Pestalozzistraße. Jeden Freitagabend gestaltet Nachama dort die Sabbatfeier. Hier sieht man Nachama in seiner eigentlichen Rolle, der des Kantors und Vorbeters. Gewandet in Talar und Tallid steht er vor der Gemeinde. Auch mit 79 Jahren klingt seine Stimme noch voll und satt. Die Töne gehen durch Mark und Bein. Gleichzeitig offenbart Nachama auch hier, an diesem sakralen Ort, worum es ihm eigentlich geht: „Die Menschen zu erreichen.“

In der ersten Reihe sitzen Kinder. Nachama sieht die Kleinen und zwinkert, schneidet Grimassen. Dann wieder schaut er ernst drein. Die Kinder lachen. Unvermittelt dann ein prüfender, fragender Blick zu Sohn Andreas. Hat er etwas vergessen? Was gibt es? Die Synagoge füllt sich langsam. In der Mitte die Männer, an den Seiten die Frauen. Nachama schaut herum, bekannte Gesichter werden mit einem freundlichen Kopfnicken begrüßt, hier und da ein Schmunzeln. Selbst ohne Worte kommuniziert Estrongo Nachama so familiär wie virtuos.

In seinem Gesicht wird Menschlichkeit gesehen. „Sein Menschenbild ist dadurch gekennzeichnet, daß er, gleich ob zehn Leute in der Synagoge sind oder 800, immer versucht, den Gottesdienst gleich gut zu machen“, beschreibt Sohn Andreas Nachama. „Es zählt nicht das Geld, es zählt nicht die Anzahl der Zuhörer, sondern es zählt die Aufgabe, und die muß man halt gut machen. Er ist einfach jemand, der versucht, mit seinem Gesang einen Weg zu Gott zu finden. Für sich und die anderen.“ Der Vater drückt es auf seine Art schlichter aus: „Ich liebe die Menschen.“ So einfach ist das.

Für Estrongo Nachama war Berlin Zwischenstation und Ort seines Aufbruchs zugleich. „Ich liebe diese Stadt“, erklärt er, fast aufbrausend, als habe man diese Frage gar nicht zu stellen brauchen. Und die Stadt liebt ihn, überhäuft ihn mit Ehrungen und Würdigungen. Auch vor dem Mauerfall war das schon so – in Ost und West.

Jahrelang betreute Nachama die jüdischen Gemeinden der ehemaligen DDR. Auch die Granden der Arbeiter-und-Bauern-Republik ehrten ihn. „Ich habe auch noch ein Kreuz von Honni“, sagt er halb spöttisch, „ein großes aus Gold.“ Doch das sei jetzt „in Pökel“, in Salz, gelegt. Die Orden sind für ihn eine Anerkennung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Auch wenn er gerne und stolz von seiner Aufbauarbeit, von seinen Konzerten und von seiner Lebensleistung erzählt, hat er doch nicht den Bezug zum Gemeindeleben verloren – was zähle, seien nicht die Honoratioren, sondern die Menschen, die miteinander friedlich leben sollen. Insofern möchte er sein persönliches Bekenntnis verstanden wissen: „Nachama bleibt Nachama. Zwei Füße auf dem Boden.“ Die Stimme ist jetzt laut. Dies zu sagen ist ihm sehr wichtig.

In den fünfzig Jahren seiner Arbeit war Nachama mehr als nur Kantor und Vorbeter. Er war und ist eine der wichtigsten Integrationsfiguren der Berliner Juden, und dies, obwohl er, wie er stets beteuert, mit der Politik, die das Leben in der Gemeinde immer wieder begleitet hat, nichts zu tun haben möchte.

Nur der Rechtsradikalismus, der beschäftigt ihn und macht ihn wütend. Er sagt zornig: „Die Verbrecher jetzt, die Jugend, die Neonazis – Unverschämtheit. Die haben den Krieg nicht erlebt, die haben die Nazis nicht erlebt.“ Die Gefühle, die er jetzt zeigt, lassen die Erinnerung an das Erlebte spüren, das Estrongo Nachama trotz aller Jahre in Berlin noch in sich trägt. Er schüttelt klagend die ausgestreckte Hand: „Wir haben Angst, das können Sie ruhig schreiben, wir haben jeden Tag Angst.“

Nachama ist trotzdem zufrieden, wenn er zurückblickt. Was noch kein Anlaß ist, sich zurückzulehnen – das möge doch bitte auch notiert werden. Nicht, daß als Eindruck zurückbleibt, er, der Kantor von Berlin, sei am Ende seines Weges angelangt. Nein, nein, auch mit 79 Jahren sei dem nicht so. „Das Singen ist mein Leben. Solange Gott will, werde ich singen.“s