Kühe in Formaldehyd

■ F. Rötzer widmet in einem Vortrag der Aufmerksamkeit seine Aufmerksamkeit

Böser Verdacht: Ist das Internet am Ende nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Arbeitsamts – nein nicht für Informatiker, sondern für die Ärmsten unserer Gesellschaft, die Philosophen. Mit dem Tod Gottes haben sie ihr letztes Hemd verloren, ein Thema.

Norbert Bolz jedenfalls zeigte sich dem neuen Arbeitsfeld bestens gewachsen. Innerhalb einer sehr spannenden und zeitgeistigen Vortragsreihe der Angestelltenkammer, welche die Tücken der virtuellen Welten erkundet, umschwärmte er das Internet wie ein Goldenes Kalb; mit der – für ihn – höchst erfreulichen Begleiterscheinung, selber zum Hohenpriester zu avancieren.

Der dritte Gast hingegen, Kulturphilosoph Florian Rötzer, der in der äußerst theoretischen Vierteljahreszeitschrift „Kunstforum“für die noch theoretischeren Artikel verantwortlich ist, schlägt sich auf die Seite der Warner; der 67-Prozent-Warner („Ohne E-mail könnte ich nicht mehr leben“, schnulzt er, wie andere nur über ihre Schokocrossies), denn 100-Prozent-Warner nimmt niemand mehr ernst. Vor allem aber ist Rötzer gänzlich unpathetisch. Er referiert über den Kampf von Film, Werbung, Web-sides um unsere hochgeschätzte Aufmerksamkeit – in einem Redefluß, dessen Strömungsenergien dem Altwasserarm der Donau bei Straubing nahekommen. Ein Widerständler, richtig sympathisch. Wer etwas wissen will, soll sich gefälligst anstrengen. Kein Infotainment also über das Infotainment. Sein schlurfiger Ton paßt bestens zu Rötzers langgebliebenen Haaren.

Sagen tut er das, was alle sagen, schon seit 20 Jahren sagen, also lange vor der Geburt des Internets: Daß die Welt immer komplexer wird, das Angebot an Information immer größer, also immer mehr ausgefiltert, übersehen, überhört werden muß und so nur noch die knalligsten Daten in unserem Hirn ankommen. Und weil sich Reize schnell verbrauchen, muß jede Mitteilung – egal ob werblich, nachrichtlich oder künstlerisch – immer wieder neu aufgestylt werden, wie unsere Frisuren im Frühling. Schöner gesagt: „Wir sind eingeschlossen im Kreislauf der Innovationen.“Nicht gerade eine Innovation, diese Ansicht. Aber Rötzer garniert immerhin seine alten Hüte mit ein paar netten Gänseblümchen, präzise Formulierungen, allerdings ohne wie Bolz mit Modewörter um sich zu hauen. Eben kein Infotainment.

Natürlich bezieht sich Rötzer schalkhaft auf die Vortragssituation, die perfekte Aufmerksamkeitsbündelung bei einem Redner und vielen Hörern oder den Unterschied zwischen dem Spannungsverlauf in einem Vortrag und einem Hitchcock-Suspense.

Nachdem Rötzer allerdings auch noch über die neue Zerstreutheit der Jugend redete und über „die kürzer werdende Verfallsdauer“von Stilen, schien der Vortrag irgendwie sich selbst zu widerlegen: Man hört sie doch so gerne, die alten, vertrauten Gedanken. Ein paar Wörter durch andere ersetzt, ein winziges bißchen Gewichte verschoben, im großen und ganzen fügt sich aber jeder Satz ins altbewährte Weltbild. Aufmerksamkeit scheint nicht nur auf Neues anzuspringen, sondern auch auf Bewährtes. Surreale Gefühle, vertraut aus Kneipe und Univorlesung, stellen sich ein: Da steht ein Mensch, erzählt seine Ansicht, voller Ernst und Würde, und erzählt doch nur die allgemeinen Ansichten, ideel verkabelt mit dem Zeitgeist, ganz ohne Internet. Wozu?

Weil eben auch wichtige Dinge zur Sprache kamen: Die Gefahr der lückenlosen Überprüfbarkeit eines Lebenslaufs, durch das Erkunden seiner hinterlassenen, digitalen Spuren. Und auch an der Kunst geht das „Wettrüsten“der Medien im Krieg um unsere Aufmerksamkeit nicht vorbei. In den jeweils avanciertesten Medien „ist sie chancenlos“. Mit MTV kann kein Kunstvideo konkurrieren. Reüssieren kann die Kunst nur in altmodischen Gattungen. Aber auch dort verführt die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit zu großen Formaten und Materialschlachten: „Kühe in Formaldehyd.“ bk