■ Normalzeit
: Positives Denken

Die 1982 mit der transsibirischen Eisenbahn von Tokio nach Hamburg gezogene Philosophin Yoko Tawada meint, daß wir dem positiven Denken nichts abgewinnen können: „Europa ist eine Meisterin der Kritik. Wenn sie nicht kritisiert, so verschwindet sie. Sie erzählt nie von einer Person, einem Geschehen oder einer Institution, ohne sie zu kritisieren. Nicht, weil sie alles schlechtmachen will, sondern weil die Kritik die Grundform ihres Denkens ist.“ Und deswegen ist es uns laut Tawada auch fast unmöglich, davon wegzukommen, ohne sogleich „unehrlich oder unmoralisch“ zu werden. Nur einzelnen gelingt das – und deren Umkehrung im Denken geschieht für sie selbst fast unmerklich.

Uns fiel es zuerst auch nicht auf: Aldo wurde plötzlich immer unkritischer! Er ist seit 1976 arbeitslos und war der erste in Berlin, der wegen seiner Leberwerte keine ABM bekam. Seine Lebenstüchtigkeit äußerte sich daraufhin in immer dünnerer Luft: megakritisch. Bald konnten ihm bereits kleinste Alltagsprobleme den ganzen Tag versauen. Am Fernsehen bemängelte er immer öfter, daß die Farben blasser würden. Doch vor ein paar Wochen meinte er eines Abends, er glaube, daß die Lottozahlenansagerin es nicht mehr lange mache – und fügte hinzu: „Ich muß mir anscheinend wirklich noch mal einen Ruck geben!“ Ohne die beiden Bemerkungen zunächst in einen Zusammenhang zu bringen, nickten wir. Dann fing er an, morgens mehrere Zeitungen zu kaufen. Statt der Stellenanzeigen las er die Horoskope (manchmal noch das „Börsenbarometer“). Da sein genaues Geburtsdatum unbekannt war, konnte er sich die passendsten Vorhersagen aussuchen. Das war schon immer so gewesen, jetzt dienten sie ihm jedoch zur allmorgendlichen Beflügelung – Sätze wie: „Für um den 18.5. Geborene ist heute ein entscheidender Tag“, „Sie sollten nicht länger zögern, längst Fälliges zu erledigen!“ oder „Dieser Tag wartet mit einer hübschen Überraschung auf, wenn Sie ihr ein Stück entgegenkommen!“ Mehrmals kopierte er sich Artikel über Karin Tietze-Ludwig, die Lottozahlenansagerin. Und nach jeder Ziehung wurde er euphorischer. Das hatte nichts mit den Zahlen zu tun: Er spielte schon seit Jahren nicht mehr! Er weidete sich bloß an dem seiner Meinung nach immer angestrengter wirkenden Lächeln der „Glücksbringerin“, wie sie in der Presse wiederholt genannt wurde. Dann fing er an, sich Sechserzahlengruppen zwischen 1 und 49 auszudenken, die er uns auch schon mal – wenn es die Gelegenheit zuließ – laut vorlas, um sie auf ihren Klang und seine Wirkung hin zu prüfen. „Was soll das, du tippst doch gar nicht!“ „Ich mach' mich fit!“ sagte er – an einem Sonntag. Und dann passierte es – am darauffolgenden Mittwoch bereits. Triumphierend knallte er zwei Springerzeitungen auf den Küchentisch: „Hier, lest selbst!„ – „Lottofee hört auf“ lautete die Schlagzeile. „Ja, und?! Du hast es schon lange geahnt! Aber was soll's?“

„Daß ich gleich im nächsten Jahr wieder anfange zu spielen. Da kommt nämlich eine neue Lottofee. Und diesmal werde ich nicht so schnell aufgeben wie bei der letzten.“ „Du bist also optimistisch, daß du diesmal gewinnen wirst? – Denk daran, du bist nicht mehr der Jüngste!“ „Man muß der Neuen eine Chance geben! Die Tietze-Ludwig hat ja nicht aus freien Stücken aufgehört. Da war ja ein gewisser Druck dahinter. Es ist kein Geheimnis, daß immer mehr Leute in den letzten Jahren abgesprungen sind. Das geht im Endeffekt in die Millionen. Aber jetzt setzen wir noch mal voll auf das Prinzip Hoffnung. Ihr werdet euch noch umgucken!“ Seitdem wurden seine Besuche bei uns seltener, und schließlich sahen wir ihn kaum noch. Einmal trafen wir ihn auf der Oranienstraße – im Lottoladen: „Komm doch mal wieder vorbei.“ „Keine Zeit!“ erwiderte Aldo, „außerdem holt ihr mich immer so runter, und es ist wichtig, daß ich jetzt einen klaren Kopf behalte!“ Helmut Höge