Der letzte Punch bricht die Beine

Eine flotte Frau in Übersee – die französische Antilleninsel Guadeloupe ist Karibin. Längst hat Tourismus die Zuckerrohrindustrie verdrängt, der Rum schmeckt aber immer noch. Tapetenwechsel der Natur zwischen Sandstränden und brodelndem Vulkan  ■ Von Günter Ermlich

„Trink nicht soviel, paß auf beim Autofahren, schlag deine Frau nicht!“ Die schwarze Marktfrau in buntem Madras-Karo und mit weißem Kopftuch stopft unablässig Gemüse und Obst in die Plastiktüte, während sie einem jungen Mann nebenbei ein paar gute Ratschläge für die Feiertage verabreicht. Leicht verlegen grinsend preßt dieser ein „oui, oui“ heraus und verschwindet. Am Stand gegenüber hält die Kollegin dem Touristenpaar eine Flasche Guajave Ti-Punch unter die Nase. Sie müssen daran riechen, dann ein Tröpfchen trinken. Und beide erliegen dem Charme von Frau und Flasche. Eine leibesfüllige Marktfrau hinter dem Fischstand, im Fadenkreuz der Spiegelreflex, dreht sich brüsk weg und flucht heftigst in der kreolischen Landessprache. Die Marktfrauen von Pointe- à-Pitre auf Guadeloupe sind selbstbewußt, geschäftstüchtig, lebensgescheit.

„Das französische l'outre-mer (jenseits des Meeres) ist wie eine Frau, man muß sie lieben.“ Der Autor dieser lyrischen Metapher, ein gewisser Jacques Chirac, schließt weiter: „Wenn man sie liebt (die Frau), dann kann man ihr nichts verweigern.“ Guadeloupe, 1493 von Kolumbus entdeckt, 1635 von La France vereinnahmt, ist eine der attraktiven Frauen, die Frankreich nach der Entkolonialisierung als DOM (Überseeisches Département) verblieben sind. Der Präfekt hat den Gouverneur abgelöst; seit 1946 gehört der Antillen-Archipel als ein Département wie das Calvados oder das Jura politisch zu Frankreich und mithin zur Europäischen Union.

Pointe Noire ist ein Dörfchen am Meer. Holzhäuser mit Wellblechdächern, Palmen, bunt bemalte Fischerboote am Strand. Alte schwarze Männer dösen unter Strohhüten vor der Haustür, Merengue-Rhythmen dringen aus dem kleinen Restaurant. Karibik im Postkartenformat. Place de la Liberté. Vom Dach des kleinen Rathauses weht die Trikolore, die Säule in zartem Blau trägt Jeanne d'Arcs Büste. Ein Gedenkstein ist auf den 14.7. 1899 datiert, zum hundersten Geburtstag der großen Revolution. Vive la France!

7.000 Kilometer und acht Flugstunden ist das Reiseziel in der Karibik von „la Métropole“, dem Mutterland, entfernt. 350.000 Urlauber, fast ausschließlich Franzosen neben noch „bescheidenen“ 11.000 Deutschen, besuchen jährlich den 400.000 Einwohner zählenden Antillen-Archipel mit so aparten Inselnamen wie Marie- Galante, Les Saintes und La Désirade. Die meisten Touristen bleiben auf der Hauptinsel Guadeloupe, die von der Natur wie ein grüner Schmetterling mit zwei Flügeln geformt wurde. Auf Grande- Terre, dem östlichen, kleineren Flügel haben sich die meisten Hotels und Restaurants an den weißen Sandstränden angesiedelt. Im flachen Landesinnern dehnen sich große Zuckerrohr-Plantagen auf kalkhaltigen Böden aus.

Basse-Terre, der westliche Flügel „unter dem Wind“, ist wilder, „ursprünglicher“ – und regenreicher. Der tropische Regenwald mit Wasserfällen, warmen Quellen, mit dem Vulkan „La Soufrière“ als brodelndem Höhepunkt, ist als Nationalpark ausgewiesen. 400 Kilometer Wanderwege führen durch das Gebiet. Die beiden ungleichen, für Touristen gerade dadurch reizvollen Inselhälften sind durch den Meeresarm Rivière Sale, einer Landzunge mit Mangrovenwäldern, getrennt und nur über eine Brücke miteinander verbunden.

Dichter Nebel umhüllt den Vulkankegel La Soufrière. Nichts zu sehen auf dem „Damenweg“. 90 Minuten tapst der Wanderer auf diesem steinigen Weg zum 1.467 Meter hohen Gipfel: „La grande découverte“ (Die große Entdeckung“), ein zutreffender Name. Der Regen peitscht, der Sturm tost. Kalte Tropen. Nichts für Leichtgewichte. Wer sich nicht ans Kreuz klammert, der wird gnadenlos weggeblasen. Unfaßbar, da kommt doch jemand in Shorts und Badelatschen, ein Handtuch über dem Kopf, federnden Fußes heraufgeeilt. „Ja, hier ist ja gar nichts“, stellt der Urlauber aus Martinique fest. Die steinerne Schutzhütte bietet wenig Gipfelflair: nichts als Gerümpel und Holztische. Der Unterstand ist gerade mal 1,50 Meter hoch. Schnell weiter durch die Mondlandschaft, an mehreren Bergschlunden vorbei, immer dem Duft ganzer Wagenladungen fauler Eier folgend zum Südkrater. In der Tiefe des Erdlochs, von einer Seilkette gesichert, brodelt es bedrohlich. Die aufsteigenden feucht-heißen Schwefeldämpfe rauben den Atem. „La Soufrière“, die „alte Dame“, war zuletzt 1976 richtig aktiv. Dafür spuckt der Vulkan auf der Nachbarinsel Montserrat seit vielen Monaten so stark Gift und Galle, daß die Inselbewohner evakuiert werden mußten. Rasanter Tapetenwechsel der Natur. Eben noch auf dem unwirtlichen Vulkan in dicker, regenabweisender Jacke, jetzt schon in der Badehose am populären Palmenstrand Grande Anse in Trois Rivières. Ein Kontrastprogramm mit Höhen und Tiefen. Guadeloupe, der bunte Schmetterling mit vielen Facetten.

Eigentlich sollte es ja nur ein pittoreskes Foto werden: Ochsengespann mit Mann auf Holzkarren. Doch aus der kurzen Fotobegegnung zwischen Einheimischem und Touristen wird etwas mehr. Kasimir sei Dank. Der Mann mit der grünen Baseballkappe fährt auf seinem Gespann vor, die Touristen im Mietwagen hinterher, links über einen durchfurchten Feldweg zu seinem ganzen Besitz: 6 Hektar Land Zuckerrohr, ein Schwein, 10 Ziegen, 5 Rinder. „Ich liebe die Touristen“, sagt Kasimir später in seiner Case, halb aus Holz, halb aus Beton. Er mixt einen Ti-Punch, den Lieblingstrunk der Insulaner: weißer Rum, ein Teelöffel Zuckersirup, ein Spritzer Limettensaft. Voilà. Dutzende von Gold- und Silberpokalen in der Vitrine und oben auf dem Regal sind Ergebnis seiner Freizeitpassion: „boeuf-tireur“-Wettkämpfe. Die Fahrer müssen Ochsengespanne mit Holzkarren steile Hänge hochdirigieren. Noch einen Ti-Punch? Kasimir kramt ein Fotoalbum hervor. Schöne Erinnerungen. Da sitzt er im gelben Trikot hoch oben auf dem Ochsenwagen, und da hält er freudestrahlend eine Siegertrophäe. Wenn er mal in Paris wäre, sagt er beim Abschied in der Dämmerung, würde er auch gerne gastfreundlich aufgenommen werden.

Paris und die Metropole sind weit weg und doch allgegenwärtig. Die Ketten-Supermärkte sind voll mit Käse und Butter aus der Normandie und Bordeaux-Rotweinen, feinem Bayonne-Schinken und edlem Parfum. Das Schulsystem, die Sozialversicherung Secu, überall Arztpraxen und Apotheken mit blinkendem grünen Kreuz, ein mit Geldern aus dem EU-Regionalfonds FEDER gut ausgebautes Straßennetz, viele neue Renaults und Peugeots. Die Straßen in und um das Wirtschaftszentrum Pointe-à-Pitre sind zur Rush hour fast so verstopft wie der Pariser Boulevard Périphérique. Selbst die 30 Prozent Arbeitslosen werden wie im Mutterland sozial abgefedert: durch RMI-Zahlungen, der deutschen Sozialhilfe vergleichbar, und andere Leistungen wie zum Beispiel Familienbeihilfen, aber auch im Schoß der Familie.

Und wenn die Hurrikane sommers vom Atlantik heranbrausen, so wie der besonders grausame „Hugo“, der 1989 mit 350 km/h schneller als ein TGV über die Insel hinwegfegte und große Schäden anrichtete, oder vor zwei Jahren Luis und 14 Tage später Marilyn, dann spielt Paris unbürokratisch Krisenmanager. Als die Ernte auf der Bananenplantage „Grand Café“ 1995 komplett zerstört wurde, da zahlte der Staat immerhin 30 Prozent der Verluste zurück.

„Wir sind eine Insel des Wohlstands im karibischen Armenhaus“, bekennt der bedächtige Jean Barfleur, Bürgermeister der kleinen Kommune Port Louis auf Basse-Terre. Ja, es gäbe ein Problem der heimlichen Immigration. Viele Haitianer und Dominikaner kämen herüber und arbeiteten von Februar bis Mai als Saisonarbeiter in der Zuckerrohrernte. Letztes Jahr hat Barfleur bei den Gemeindewahlen mit seiner „Union populaire“, einer lokalen Vereinigung des Mouvement Independentiste (Bewegung für ein unabhängiges Guadeloupe), die seit 51 Jahren regierenden Kommunisten abgelöst. In seinem Büro hängt die Erklärung der Menschenrechte neben einem Foto von Nelson Mandela in Handschellen. Ohne das Reizwort in den Mund zu nehmen, umschreibt Barfleur die „Malaise guadeloupéen“: einerseits besinnen sich die Guadeloupaner auf ihre afrikanischen Wurzeln und schmieden an ihrer Identität, andererseits verfallen aber die meisten letztlich doch dem Netz ökonomischer Abhängigkeiten und den Subventionen von Mutter Frankreich.

Bürgermeister Barfleur, der auf dem Separatisten-Ticket fährt, macht sich vor allem für eine regionale Identität und institutionelle Änderungen auf Guadeloupe stark. „Wir wollen direkt mit Europa verhandeln.“ Bisher würde die ganze Inselpolitik doch von „französischen Technokraten“, die nicht einmal in Guadeloupe residierten, gelenkt.

„Wir müssen gemeinsam vorankommen“, appellierte Ex-Premierminister Alain Juppé an seine karibischen Landsleute, als er im April 1996 den für zwei Millionen Ankünfte angelegten neuen Flughafen Poles Caraibes einweihte. Die „neue Guadeloupe“ will in Zukunft noch stärker auf den Tourismus setzen, der mit 2,5 Milliarden Francs (750.000 Millionen Mark) bereits die größte Wirtschaftsbranche der Insel ist. Er bringe schon heute mehr ein, schreibt die Inselzeitung France- Antilles, als die traditionellen Agrarprodukte Zuckerrohr und Bananen zusammen. Doch ob die Trumpfkarte Tourismus auch in Zukunft sticht? Die Hochrechnungen – 1,5 Millionen Besucher im Jahr 2010 (das wären fast fünfmal so viele wie heute!) und 60.000 direkte Jobs – scheinen maßlos übertrieben. Zumal rund 30 weitere touristische Destinationen in der Karibik wie Kuba, die Dominikanische Republik oder Isla Margarita billiger um die Gunst der Urlauber buhlen.

Überall im kargen, kalkhaltigen Osten von Basse-Terre rosten stillgelegte Türme von Raffinerien vor sich hin; die Zuckerfabrik Gardel hat als einzige überlebt. Mit dem Zuckerrohr, einst blühende Monokultur und wichtigste Einnahmequelle, ist nur noch wenig Staat zu machen. Guadeloupe dürfe „leider nicht exportieren“, erzählt der Handelsattaché der Gardel-Fabrik schulterzuckend. Der Markt sei total protegiert und zu 100 Prozent vom französischen Staat abhängig.

Im Rum-Museum in Sainte Anne duftet es betörend nach frisch gärendem Zuckerrohr. Stelltafeln erklären den vegetativen Zyklus des Zuckerrohrs: vom Setzen der Keimlinge bis zum Schneiden der drei Meter hohen Stengel, Verladen und Transport, Mahlen, Gärung und Destillation bis zur Lagerung. Alles schön anschaulich wie die Objekte: ein primitiver Destillierkolben, alte Eichenfässer, ein kleiner Ochsenkarren (chabrouet). Dazwischen vergilbte Fotos: „Arbeiter im Ernteeinsatz.“ Die Familie Reimonenq, eine der wenigen weißen Kolonialfamilien der Insel und Besitzer einer Destillerie, hat das Museum gegründet, „um die Erinnerung an den Pioniergeist der Geschichte des Zuckerrohrs wachzuhalten, die auf Guadeloupe im 17. Jahrhundert begann“, heißt es im Museumsvideo auf deutsch. Daß die Plantagenbarone den Zaster mit dem Zucker „aus dem Schweiß der Sklaven herausgepreßt“ hätten, dürfe nicht vergessen werden, haben Myriam und Max aus New York im Besucherbuch festgehalten. Die Sklaverei wurde erst 1848 vom Gouverneur Victor Schoelcher für beendet erklärt.

Die Stunde des Rums hat geschlagen, Degustation in der Museumsboutique. Der „Rhum agricole“, der echte Rum aus reinem Zuckerrohrsaft, ist der beste. Und diese Rum-Fruchsaft-Verbindungen, Punch au Coco, einfach delicieux! Oder dieser Punch aus Guajave, ein Gaumengenuß! Maracuja und Mango, pas mal, nicht übel... „An pt-pi“, der letzte Punch, „bricht die Beine.“ Ein Glück, daß es bis unter die nächste Palme nicht weit ist.