Zerstören statt berichten

Autobiographische Subversion: Alain Robbe-Grillet mißtraut den Zusammenhängen und erzählt statt seines Lebens eine ungeordnete Sammlung von Anekdoten  ■ Von Michael Westphal

„Es hat etwas Irritierendes für einen Mann der Feder..., wenn er sich nun ständig ins Rampenlicht gestellt sieht, reduziert auf sein Bild auf dem Schutzumschlag des Buches“, schrieb Alain Robbe- Grillet, Nestor des Nouveau roman, in seiner Autobiographie „Angélique oder Die Verzauberung“. Diese Animosität dürfte sein deutscher Verlag ignoriert haben, der nun den dritten Teil seines autobiographischen Projektes, „Corinthes letzte Tage“, veröffentlicht und den Schutzumschlag gleich viermal mit dem Konterfei des Autors verziert: Ergraut, doch mit beneidenswert vollem Haar und wachem Blick.

Der ursprünglich als Agronom ausgebildete Fachmann für Reaktionen im Reagenzglas mit eingehender Übersee-Erfahrung war zu Beginn der 50er Jahre angetreten, um seine Experimentierfreudigkeit an einer Gattung jenseits von Fauna und Flora zu erproben: dem Roman. Für den ehrgeizigen Naturwissenschaftler war es ein Unding, daß offenbar nur die Literatur an erstarrten Formen festhielt, weiterhin einem traditionellen Erzählen frönte und an einem überkommenen Wirklichkeitskonzept und einer starren Kunstauffassung kleben blieb.

In seinem programmatischen Essay von 1961 „Nouveau roman, homme nouveau“ wetteifert Robbe-Grillet gegen den bourgeoisen Roman (Flaubert, Balzac) und postuliert statt dessen einen neuen Realismus, der dem Leser die Augen über seine wirkliche Stellung in der Welt öffnen solle. Dabei verabschiedet er sich vom klassisch- humanistischen Literaturbegriff, der dem Menschen ein Ziel vor Augen hält und über den Schmerz des sinnlosen Daseins hinwegtrösten will. Robbe-Grillet akzentuiert die Funktion von Literatur neu als ein Mittel zur Selbsterkenntnis des Menschen. Statt fertige Antworten zu liefern, solle sie bestenfalls Diagnosen bieten: Der Roman als eine Untersuchung.

Die Metapher hat dabei endgültig als alter Hut ausgedient und einer reinen Inventarisierung der Objektwelt Platz gemacht. Das beschwor rasch den Groll der Kritiker herauf: „Objektlitaneien“, „Sie sind kein Romancier, sondern ein Ingenieur!“ Auf eine einheitliche Erzählperspektive und kohärente Raum-Zeit-Strukturen verzichtend, ohne individualisierten Protagonisten auskommend, verlegt Robbe-Grillet sich ganz auf die minutiöse Beschreibung. Die Diskontinuität wird aufgefangen in einer Serie von Augenblicksbilder, Instantés, wie ein Band von Kurzerzählungen überschrieben ist.

Wer „Corinthes letzte Tage“ oder die beiden vorangegangenen Autobiographien („Der wiederkehrende Spiegel“ und „Angélique oder Die Verzauberung“) liest, darf also keine emphatische Rekonstruktion erwarten, die Rückführung eines einstigen Ich im Stil der großen Memoiren des 20. Jahrhunderts, wie sie gerade in Frankreich – mit Proust, Gide, Leiris, als die wichtigsten Vertreter – gegeben ist. Für Robbe-Grillet gilt fast zwangsläufig, nach dem Nouveau roman eine Nouvelle autobiographie vorzulegen. Das altehrwürdige „Unternehmen Autobiographie“ demontiert er bar jeder Ehrfurcht. Wir kommen nicht in den Genuß einer aufs äußerste gehenden Selbstexploration des Ich, obsessiv-sexuell konnotiert, wie sie für Gides „Stirb und werde!“ typisch ist. Verschont werden wir von der obszönen Selbstverachtung eines Michel Leiris in „L'Ûge d'homme“. Verzichten müssen wir auf die glückhaften Kindertage und das plötzliche Eingedenken einer dort beheimateten Erinnerung, wie sie beim Genuß eines Lindenblütentees wachgerufen wird, den Prousts „Recherche“ bereithält. Auch die Revitalisierung einstiger Kinderspiele wie in Camus' „Der erste Mensch“ werden wir in Robbe-Grillets Memoiren vergebens suchen.

In Anlehnung an Überlegungen zum Nouveau roman straft Robbe- Grillet in seiner Autobiographie jede Kohärenz Lügen. Sie präsentiert sich vielmehr als eine Mischung aus fragmentierter Erzählung, Poetik und Biographie. Einziger roter Faden seiner dreiteiligen Konstruktion ist die enigmatische Figur Corinthe, die mal als Alter ego des Schriftstellers, mal als historisch verbürgte Person, mal als Freund der Familie in Erscheinung tritt. Ansonsten stehen wir einer scheinbar ungeordneten Kompilation biographischer Fakten, teils vortrefflicher Anekdoten, insbesondere über Schriftstellerkollegen, vor allem aber literaturtheoretischen Reflexionen über den eigenen Forschungsgegenstand, dem Nouveau roman, sowie Deklarationen zum dichterischen Selbstverständnis gegenüber, die das Konzept einer Authentizität insgesamt immer wieder in Frage stellen. „Es geht also nicht darum, mich durch falsche, erstarrte, von außen aufgesetzte Zusammenhänge zu beruhigen. Ich muß im Gegenteil darauf achten, stets die Bewegung, die Mängel, die unerklärliche Kontingenz des Lebendigen einzubeziehen“, schreibt Robbe-Grillet in „Angélique oder Die Verzauberung“. Und in „Corinthes letzte Tage“ findet der Autor dafür auch den geeigneten Begriff: „autobiographische Subversion“. „Ich entdecke hier nach und nach, daß ich zerstöre, was ich berichte“, schreibt Robbe-Grillet. Damit nicht genug, stellt er seinem Bericht ein absurd-akribisches Kompendium, ein „Inhaltsverzeichnis“ hintan, das sich nur entfernt mit dem Erzählten deckt und mit höchst eigenwilligen Ingredienzen aufwartet: „Der hypothetische Erzeuger der Auserwählten als Unterwasserkormoran.“ Darf man die Kritiker so provozieren?

Alain Robbe-Grillet: „Corinthes letzte Tage“. Deutsch von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997, 236 S., 38 DM