Zerschnittene Akropolis

Bogdan Bogdanović, Architekt und ehemaliger Bürgermeister von Belgrad, erweist sich auch als großer Erzähler  ■ Von Balduin Winter

Seine Wohnung im Wiener Exil liegt in einem der südlichen Bezirke, dessen Kneipen und Märkte Balkannähe aufweisen. Nicht weit von ihr befindet sich, Zufall, der Belgrader Platz. Das echte Belgrad mußte er vor vier Jahren verlassen, nachdem die Repressalien und Bedrohungen unerträglich geworden waren.

Zahlreiche Zeichnungen sind an den Wänden aufgespickt, surrealistische Skizzen, Entwürfe imaginärer Städte, rätselhafte Hieroglyphen, kleine Baupläne nie errichteter Lokalitäten, ein phantastischer Kosmos mit erfundenen Wesen, die ihre eigene Sprache sprechen. Beim genaueren Betrachten mag man Elemente des alten Ägyptens, des Zwischenstromlands, Yucatáns oder des alten Chinas entdecken; am meisten beeindruckt, wie sich ganz disparate Teile zu einer universellen Komposition zusammenfinden. Umgekehrt entdeckt „der verdammte Baumeister“, wie Bogdanović sein Erinnerungsbuch betitelt, beim Zerschneiden der Akropolis, „daß die Teile seines ,architektonischen Kalbs‘ harmonischer und schöner aussehen konnten als das geschlachtete Vieh im Ganzen“, was zur klassischen Ästhetik im krassen Widerspruch steht.

Was hat dieser würdige, weißhaarige Herr, immerhin schon 75, da angestellt? Die Akropolis wie ein hohepriesterlicher Metzgergeselle in Stücke gehackt? Aber vielleicht wirft diese Episode im Buch ein gewisses Licht auf die pittoreske Psychoarchitektur des Autors. Also: Der junge Bogdanović bereitet sich auf seine erste Reise nach Griechenland vor. Er sammelt alte Bildbände, Lexika, Stadtpläne und Ansichtskarten. Aus irgendeinem alten, abgegriffenen Fetzen Karte vergrößert und ergänzt er mit einem Pantographen die Höhenlinien, baut sich die Akropolis nach und zerlegt sie zu vereinfachten stereometrischen Ausschnitten. Mittels eines Handbuchs für Baumeister von Sonnenuhren von 1837 berechnet er „die Intensität der beleuchteten Flächen und Zierteile, die Grenzen und die Tiefen, das heißt die Verdunkelung der Schatten“ je nach Tages- und Jahreszeit – um dahinterzukommen, wie sich der Marmor im Laufe der Jahrtausende verfärbt hat. Da erkennen wir einerseits den gründlichen Tüftler, der bei aller Spielerei – und Spinnerei – seine Projekte mit hoher Sorgfalt durchkomponiert. Andrerseits decouvriert er sich als Spieler und Träumer, der etwas zerstreut die Karten mischt. Warum sollte immer nur Herzdame mit Herzkönig etwas haben, warum nicht auch die Kreuzdrei mit dem Karoas? Und warum sollte nicht auch der Joker des Unmöglichen im Spiel sein? Man ahnt eine gewisse surrealistische Inkubation von Nerv und Herz.

Aber an diesem grauen Novembernachmittag sprechen wir vor allem über Politik. Bogdanović war von 1982 bis 1986 Bürgermeister von Belgrad, danach Mitglied des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten, bis er 1987 in einem 60seitigen Brief an Milošević Stalinismus, Nationalismus und Kriegshetze der führenden Genossen kritisierte und verurteilte. Vielleicht verführen diese Teile seiner Biographie dazu, in ihm vorwiegend den politischen Menschen zu sehen. Und natürlich geht ihm auch die politische und gesellschaftliche Situation in Serbien sehr nahe: der nationalistische Wahn der serbischen Führer, den multiethnischen Reststaat in einen mononationalen zu verwandeln; das verkehrte Denken im Volk; der Ostrakismus Miloševićs; die nahezu vollständige Emigration der demokratischen Intelligenz. Darüber möchte er auch sprechen.

Er, dem es an Hoffnung und an Heiterkeit wahrlich nicht gebricht, zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft mit der Perspektive weiterer militärischer Konflikte. Seine Prophezeiungen sind leider schon einmal eingetroffen. Wer sich aber von seinem Erinnerungsbuch eine einschlägige politische Biographie erwartet, wird enttäuscht. Zum Glück, denn Bogdanovićs reich bewegtes Leben ist um einiges spannender als eine Geschichte der jugoslawischen KP, zumal er sich nicht aus irgendeiner objektiven Notwendigkeit zu einer prädestinierten historischen Mission berufen fühlt. Eine Rebellengeschichte, spannend erzählt, als Traumtänzerei wie das Leben selbst, nicht in simpler Linearität, sondern mit Zeit- und Luftsprüngen, Analogieschritten, Pirouetten, Haken und Bögen. An Metaphern, bizarren Bezügen, verblüffenden Kombinationen, doppelten Böden und ungewöhnlichen Experimenten fehlt es wahrlich nicht, so daß jeder Leser, der Klarheit und Eindeutigkeit sucht, sich leicht an der Nase herumgeführt fühlt.

Schon als Pubertierender versteht sich Bogdanović als Republikaner, verficht auf dem Gymnasium surrealistische Manifeste, begeistert sich an Miroslav Krležas anti-stalinistischem Traktat, eckt in der kommunistischen Jugend an, tritt als Widerstandskämpfer gegen die faschistische Okkupation an, aber auch gegen Dummheit und Fantasielosigkeit in den eigenen Reihen, studiert Architektur, tritt als scharfer Gegner anti- moderner Agitpropkunst öffentlich auf, baut Gedenkstätten zum Partisanenkampf und Mahnmale zum Holocaust, z.B. das mißtrauisch beäugte Mahnmal von Jasenovac auf persönlichen Auftrag Titos, also öffentliche Bauten, an denen sich immer wieder heftige politische Debatten entzünden. Auch hohe politische Funktionen können aus ihm keinen Bürokraten machen. Nie hat Belgrad einen originelleren Bürgermeister gehabt. Als er für einen intensiveren Austausch der großen Donaustädte (Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad) eintrat, warfen ihm die „Bolschewiken“ vor, aus Belgrad „eine unserbische Allerweltsstadt“ zu machen – der Nationalismus in Teilen der KP war schon früh erkennbar. Auch als Stadtoberhaupt blieb er der Architektur verbunden. Im Gespräch berichtete er von seiner Idee eines „reisenden Seminars“: Die Donaustädte sollten gemeinsam ein Flußschiff ausrüsten, auf dem namhafte Forscher von einem archäologischen Ort an der Donau zum andern fahren, „eine Art wissenschaftlicher Tourismus“. Bei vielen Kollegen fand seine Idee ein positives Echo. Da es aber auf jugoslawischem Boden einige Fundorte von Weltbedeutung gibt, z.B. Lepenski Vir, wurde ihm von hysterischen Nationalisten „der Ausverkauf Belgrads“ vorgeworfen.

Später zeigt er Dias von seinen Bauten, die zum Teil zerstört sind, Bilder von Denkmälern in Jasenovac, Prilep, Mostar, Travnik. Denkmäler des Todes? „Ich habe nie nekrophile Städte gebaut, sondern Orte für die Lebenden“, sagt er, und wie zum Beweis folgt ein Dia, auf dem Kinder zwischen reliefgeschmückten Steinblöcken Fangen spielen. Eine Anekdote folgt: „In Wien kam eine Frau zu mir und sagte, es ist ein bißchen komisch, wenn ich Ihnen das erzähle, aber mein Vater und meine Mutter haben mich unter Ihrem Denkmal gezeugt... Das ist die höchstmögliche Liturgie!“ Und meint den Begriff im ursprünglich griechischen Sinn, als Beitrag der Bürger zum Unterhalt ihrer Gemeinde.

Bogdan Bogdanović: „Der verdammte Baumeister“. Erinnerungen. Aus dem Serbischen von Milo Dor. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997, 304 S., 46 DM

„Die Stadt und die Zukunft“. Essays über Architektur. Aus dem Serbischen von Klaus Detlef Olof. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 1997, 116 S., 26,80 DM