■ Ökolumne
: Mord und Profit Von Thomas Worm

„Wenn der schwerbepackte Knecht Ruprecht zum ,Fest des Friedens‘ aufbricht durch die Armenviertel von Johannesburg, Washington oder São Paulo, sollte er künftig statt seiner Rute eine AK 47 dabeihaben. Zur eigenen Sicherheit.“ Der schnodderige Sarkasmus eines deutschen Journalisten gilt der Tatsache, daß die Zahl der Überfälle und Morde weltweit rasanter wächst als die Bevölkerung. Wie die Kriminalität insgesamt. Allein die Einnahmen der internationalen Mafia-Syndikate schätzt die UNO auf jährlich 750 Milliarden Dollar – mehr als die Wirtschaftskraft aller Sub-Sahara-Staaten zusammen. Eine Schätzung, die verschiedenen Experten immer noch um ein Mehrfaches zu niedrig erscheint.

Während die Industrieländer zwei bis drei Prozent ihrer nationalen Budgets für die Verbrechensbekämpfung verwenden, sind es in den Entwicklungsländern vier- bis fünfmal soviel – auch wenn etwa die US-Regierung inzwischen mehr für den Strafvollzug ausgibt als für das Erziehungswesen. In zahlreichen Staaten drohen Diebstahl, Unterschlagung und Bestechung die Bemühungen um eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu strangulieren. Die Kosten gewalttätiger Stadtkriminalität beziffert das Londoner Panos-Institut auf mehrere Billionen Mark. Nicht nur persönliche Opfer bleiben zurück. Gewalt zerstört das Zusammenleben, ruiniert das Geschäft und leert die Staatssäckel.

Nach wie vor jedoch setzt die Mehrheit der Politiker und Ökonomen auf die wohltuende „Zivilisierungsmaschine“ der Marktindustrie. Das ist gewiß auch eine Definitionsfrage. Doch vieles deutet darauf hin, daß zu Industrialisierungsbeginn im Norden die Kriminalität ursprünglich verbreiteter war. So lag die Mordrate Deutschlands im 19. Jahrhundert über dem heutigen Wert. Zivilisierung also durch Marktwachstum?

Wohl eher nicht. Die Verstädterung unter den Bedingungen der „Globalisierung“ verläuft anders. Die sozialen Einschnitte der Privatisierungsprogramme, das politische und wirtschaftliche Vakuum, verursacht durch die Implosion der Planwirtschaften und die Auflösung traditioneller Gesellschaften, läßt die Kriminalität rund um die Erde anschwellen. Der Report auf dem Habitat-II-Städtegipfel von 1996 kritisiert, daß die Anpassungskuren von Weltbank und IWF in 70 Ländern zur Zerrüttung der Städte beitragen. Arbeitslosigkeit und die Kürzung von Bildungs-, Gesundheits- und Beschäftigungsprogrammen sind Folge von Deflationspolitik und Deregulierung. Auch Chinas Übergangswirtschaft erlebt ähnliches. Die rasende Urbanisierung hat 50 Millionen Landflüchtige hervorgebracht, die mang liu. Frei von gewachsenen kulturellen Normen, bewegen sie sich nun am Rand der Städte, wo etliche in die Kriminalität abdriften. Schwerer vielleicht noch lastet auf der Entwicklungspolitik der unersättliche Krake der Korruption – laut World Development Report 1997 eines der größten Probleme überhaupt. Korruption ist ein sich selbst verstärkendes Marktversagen. Denn Bestechung zersetzt die moralische Souveränität. Sie führt zu einer Ressourcenverteilung, die weder durch politische Prioritäten noch durch die Höhe der Preise, sondern durch Pfründe und Schmiergeld bestimmt wird. In einer Welt, wo das Monetäre alles gilt, ist das ein Selbstläufer ohne Ende. Die regierungsunabhängige Organisation Transparency International beklagt, die Korruption in den Entwicklungsländern sei auch eine direkte Folge von Bestechungen durch multinationale Konzerne, die sich auf zu laxe Gesetze im Norden stützen. Kein Einzelbefund. Ein Bericht des Institute of Development Studies an der britischen Sussex University resümiert illusionslos: Die heutige wirtschaftliche und politische Liberalisierung dämmt die Korruption nicht ein, im Gegenteil.

Fazit? Die Dinge einfach umkehren. Jenseits statistischer Detailfragen könnte die Kriminalitätsrate ein Gradmesser für die gelungene, kulturfreundliche und nachhaltige Entwicklung sein. Eine Art Fieberthermometer dafür, ob Gesellschaften ihre menschlichen Beziehungen zerrütten und sich ungeheure, vom Markt ausgeblendete Sozialkosten aufbürden oder nicht. So gesehen steckt in der „Kriminalität“ weit mehr als nur ein rechtspopulistisches Wahlkampfthema. Dem Märchen von der Zivilisationsmaschine Markt jedenfalls wächst ein langer Bart. Genauso wie dem Weihnachtsmann.