Abschied von einem Wartenden

Gestern beerdigten Freunde und Mitstreiter Rudolf Bahro auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Auch Gregor Gysi, der Bespitzelung Bahros verdächtigt, gab dem Regimekritiker die letzte Ehre  ■ Aus Berlin Patrik Schwarz

Zwei kleine Kinder tollen ausgelassen über den Vorplatz der Trauerhalle. Vor den noch verschlossenen Türen stehen einige Erwachsene und wirken verloren. Die Trauerfeier für Rudolf Bahro auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof wird erst in knapp einer Stunde beginnen. Warten sei für ihn das eigentlich Spannende, hatte Bahro in einem der letzten Interviews auf dem Sterbebett gesagt. Warten sei ein Stück Vorbereitung, mehr noch: „Inspiriertes Warten“ beinhalte bereits einen „Entwurf, wie die Menschheit leben könnte. Ohne Kampf, versöhnt.“ Wer wartet, sündigt nicht.

Den Mantel zugeknöpft gegen den zögerlich tröpfelnden Regen zieht Milan Horacek Warteschleifen auf den Friedhofswegen. Ja, er sei aus Prag gekommen, mit Umweg über Bonn, sagt er. Es könnte auch die Beschreibung seines Lebensweges sein. Als tschechischer Dissident kam er nach dem Prager Frühling in den Westen und gehörte später zu den Mitbegründern der Grünen. Für den DDR-Regimekritiker Bahro setzte sich Horacek ein, als der Autor des Buches „Die Alternative“ noch im Gefängnis in Bautzen saß.

Wie Horacek hatte Bahro den Prager Frühling 1968 als politischen und persönlichen Wendepunkt erlebt. Auf die innere Abkehr von der SED folgte in Form der „Alternative“ die öffentliche Abrechnung mit dem Sozialismus – herausgegeben im Westen. „Ich saß damals im Bahro-Solidaritätskomitee, und als er dann überraschend in den Westen abgeschoben wurde, hatte ich gerade Rudi Dutschke bei mir in der Wohnung“, erinnert sich Horacek. „Wir haben gleich bei Rudi Bahro angerufen und ihn sozusagen im Westen willkommen geheißen.“

Schon bei diesem ersten Telefonat diskutieren sie über die Idee der Gründung einer grünen Partei. Dutschke, Bahro und Horacek hatten durchaus Bedenken – „wir waren ja alle drei aus dem Osten, wo die Partei alles dominierte“. Gerade Bahro habe in der „Alternative“ den Vorrang der Basis betont, die Selbstorganisation der Menschen vor Parteiorganisationen gestellt. Bahro bei den Grünen wurde eine intensive Erfahrung für beide Seiten: auf den Sitz im Bundesvorstand folgte der Parteiaustritt. Unverstanden habe er sich da wohl gefühlt, meint Horacek.

Der kleine Platz vor der Trauerhalle hat sich inzwischen gefüllt, doch prominente Grünen-Gesichter sind nicht auszumachen. Vielleicht liegt es ja an der Episode Bahro bei Bhagwan. Daß der scharfe Denker sich spirituellen Zirkeln zuwendete und schließlich die Bhagwan-Kommune in Oregon besuchte, werteten viele Zeitgenossen als Abschied von der realpolitischen Zurechnungsfähigkeit. „Auf den ersten Blick verwundert es, daß jemand, der so rationalistisch war, plötzlich in rosa Hemd und kurzen Hosen herumlief“, sagt Horacek, „aber auch da war er geradlinig und authentisch: Weil er das nicht verstand, wollte er es ergründen.“ Weil er es nicht verstand, wollte er es ergründen – das klingt, als könnte es ein Lebensmotto Rudolf Bahros sein? Milan Horacek blickt einen Moment auf den eingewickelten Blumenstrauß in seinen Händen, dann in den Himmel über der Trauerhalle. „Vielleicht...“

Was vor einer knappen Stunde noch nach einer bescheidenen, fast kläglich kleinen Beerdigung aussah, hat sich zum Medienereignis geweitet. Fotografen und Kamerateams sind eingetroffen, verstohlen machen sich Reporter Notizen auf den Programmzettel der Trauerfeier. Eine Klaviersonate von Franz Schubert ist angekündigt, die Rezitation des Gedichts „Die Eichbäume“ von Friedrich Hölderlin. Unter den Wartenden steht, in einer kleinen Gruppe mit SPD-Vize Wolfgang Thierse, Gregor Gysi. Noch am Tag ehe Bahro das Bewußtsein verloren habe, hätten sie miteinander telefoniert, erzählt Gysi. Während der Bundestag anhand von Stasi-Akten zu klären sucht, ob Gysi seinen damaligen Mandanten Bahro an die Stasi verraten hat, blieb die Freundschaft zwischen den beiden offenbar unberührt. Bahro selbst hatte Gysi öffentlich in Schutz genommen.

Als die Trauerhalle ihre Türen öffnet, reichen die Bänke nicht mal für die Hälfte der vielleicht zweihundert Trauergäste. Eine Stimme beruhigt: „Die Türen bleiben offen.“ Der Trauerredner, ein Bahro-Freund, tritt ans Pult. „Rudolf Bahro hat am 5. Dezember seinen physischen Körper verlassen.“