Jenseits der Kaninchenstarre

■ Schlingensief und kein Ende: In der NachtKantine des Schauspielhauses hatte am Freitag Alexander Grassecks Dokumentation „Freund! Freund! Freund!“Premiere

Umso größere Kreise die Schlingensiefsche „Bahnhofsmission“im Oktober zog, umso mehr nervten weltblind durch ihre Bildfensterchen starrende Kamerateams, die den Besuchern ihre Geräte an die Köpfe schlugen und diese mit plötzlich angehenden Scheinwerfern in vorübergehende Kaninchenstarre versetzten. Daß man dies auch ganz anders machen kann, zeigte Alexander Grasseck, der die komplette Aktion begleitete und daraus jetzt einen Film geschnitten hat, der Freitag in der NachtKantine des Schauspielhauses Premiere hatte. Als Gruppenmitglied war er Teil der Show und somit auch vor Ort, wenn kein formatfixierter Medientrampel nach skandalträchtigen Auftritten hechelte. Die Dokumentation, die aus dieser medialen Rundumbetreuung entstanden ist, kommentiert die Aktion nur durch Auswahl und Schnitt. Weder Moderationen noch ausführliche Interviews erläutern den Kontext der Arbeit, die Entstehungsgeschichte kommt gar nicht vor.

Ausgewählte Szenen aus den „7 Tagen Notruf für Deutschland“sprechen aber in der Regel – zumindest für all jene, die etwas Vorwissen mitbringen – auch für sich selbst. Wobei die Auswahl der Szenen doch sehr auf sogenannte Höhepunkte achtet: Todtraurige, wie den Vortrag des Tic-Tac-Toe-Liedtextes von „Warum?“durch ein Fixer-Mädchen, das ein paar Tage vorher eine Freundin durch eine Überdosis verlor, ebenso wie urkomische, etwa der Besuch bei den Scientologen. Randbeobachtungen fehlen ebenso wie Skizzen über die Reaktionen der Besucher oder Hintergrundinformationen über ausgelöste Konflikte. Somit hat diese Dokumentation gehörig nostalgischen Charakter, und entsprechend fanden sich zur Premiere in der Kantine auch überwiegend solche Gäste ein, die im Verlauf des Oktobers als Dauerzuschauer Teil des Projektes geworden waren. Dem völlig Unbeleckten dürfte die Produktion dagegen dasselbe staunende Gesicht abverlangen wie dem Scientology-Sprecher oder Ortwin Runde, als sie das erste Mal mit der kreativen Meute konfrontiert wurden.

Der angedachte Versuch, diesen Film dem Fernsehen zu verkaufen, kann deswegen einige Probleme verursachen, obwohl zumindest in den Öffentlich-Rechtlichen die Alt-68er die Macht haben, und für die sind unaufbereitete Dokumentationen auch schon wieder eine nostalgische Erinnerung an die politischen Dokus der Siebziger. Und dieser Geist ist ja auch der neuen Sozial-Kunst des Christoph Schlingensief durchaus nahe.

Kees Wartburg