„Nie wieder Schule“

■ Kurz nach dem Start bangt das Modell für Schulverweigerer schon um seine Klassenräume: Sie sollen dem Einkaufszentrum am Vegesacker Hafen weichen

Jedes Jahr kehren in Bremen rund 50 schulpflichtige Kinder der Schule den Rücken. Gemessen an der Zahl von 70.000 Schülern insgesamt ist das wenig. Doch die „Schulvermeider“, wie sie im Behördenjargon heißen, sind eine spezielle Gruppe, die besondere Probleme hat und macht – und außerdem wächst. Oft genug sind sie nicht nur als notorische SchulschwänzerInnen bekannt – sondern auch als Autoknacker, „Abzieher“, Erpresser oder Diebe.

Ein kleiner Teil dieser Schulflüchtlinge bekommt jetzt eine neue Chance. Seit Februar bereiten sich acht Bremen-Norder Jungen darauf vor, in einem neuen Modellprojekt für „Schulverweigerer“doch noch einen Hauptschulabschluß zu schaffen.

Um eine echte Alternative zum normalen Schulbetrieb zu bieten, in dem die Jugendlichen gescheitert waren, haben die InitiatorInnen des Projektes einen ungewöhnlichen Unterrichtsort gewählt: Die Theorie pauken die Schüler in der alten Netzstrickerei der Lürssen-Werft. Direkt nebenan, im Rumpf des Segelschulschiffs Deutschland, liegen die Werkstätten, in denen die 16 bis 18jährigen lernen, mit Werkzeug umzugehen. Doch ausgerechnet diese Ideal-Lösung – weg von der Schule, in einem Ambiente, wo die Heranwachsenden sich „ein bißchen wie Seebären fühlen“können – ist jetzt gefährdet.

Das Lürssengebäude auf der Hafenbrache soll im nächsten Jahr abgerissen werden, damit dort ein Einkaufszentrum entsteht. Unterrichts- und Lehrerzimmer wären damit futsch. Die Ausbildercrew der Schulverweigerer, ein Sozialpädagoge, ein Lehrer und ein Handwerksmeister, rotieren jetzt. „Alle Alternativen für neue Räume haben sich bisher zerschlagen“, sagt Lehrer Henning Ueter. Für eine neue Bleibe mit bisheriger Ausstattung fehlt nämlich das Geld. 67.000 Mark müßte die Bildungsbehörde dafür lockermachen – und kann's doch nicht. Geschieht aber nichts, fürchten die Pädagogen, daß ihr Projekt im Frühjahr auseinanderkracht. Denn sie nehmen die Ansage ihrer Schützlinge ernst: „Nie wieder Schule“, haben Dennis, Alex und Güney entschieden. Ihnen fällt es schon schwer genug, das Verweigerer-Projekt durchzuhalten: regelmäßig und pünktlich zum Unterricht auf das Schulschiff zu kommen, Probleme nicht mit Zuschlagen zu lösen, Teamgeist zu trainieren.

Dabei haben die Jungs erste Hürden schon erfolgreich gemeistert. „Sechs von acht kommen eigentlich regelmäßig“, sagt der Lehrer. „Neulich habe ich sogar eine echte Krankmeldung gekriegt.“Allerdings: Zwei Jugendliche hat der Pädagoge mit dem echten Kapitänspatent schon „endgültig von Bord“geschickt. Denn bei allem Verständnis werden Verfehlungen streng geahndet. Lehrer Ueter, Meister Ingo und Sozialarbeiter „Paule“fackeln da nicht lange. Sie wissen, damit wäre den Jungen nicht gedient. „Wer nicht einigermaßen zuverlässig sein kann, wird eine Lehre so wenig durchhalten, wie vorher die Schule.“

Fürs „Durchhalten“geben die Pädagogen auch Hilfestellung – auf ungewöhnliche Art. „Kaum bist du hier einen Tag krank, schon steht jemand vor deiner Tür und nervt“, berichtet Schüler Alex. Dann gesteht er: Wäre es anders, hätte er den Weg zum Schulschiff nie gefunden. „Einmal stand plötzlich mein heutiger Lehrer, der Herr Ueter, vor meiner Tür, Mann, um mich abzuholen, Mann. Ich war noch im Schlafanzug und kannte den gar nicht und mußte trotzdem gleich mit, Mann.“Dabei hatte der 16jährige eigentlich „keinen Bock auf diese Einladung gehabt. Monatelang hatte er sich in seiner Schule nicht blicken lassen. Doch heute gibt er zu: „Ich hab' auf dem Schiff was dazugelernt.“

Alex' Klassenkameraden geht es ähnlich – „auch wenn es echt nervt, daß hier keine Frauen sind.“Diese Meinung, die der 18jährige Güney ein wenig breitbeinig in den Werkraum krakeelt, teilen die meisten.

Christina Helmke, Mitinitiatorin des „Schulverweigerer-Projektes“, die als Leiterin des „Zentrums für Schule und Beruf“beruflich für die Probleme von SchülerInnen zuständig ist, schmunzelt über diese Kritik. Ändern wird sich deshalb nichts, sagt sie. „Die Jungen haben ganz andere Probleme als die Mädchen mit denen wir zu tun haben. Wenn wir beide Geschlechter in einer gemeinsamen Gruppe unterrichten, würde das nichts bringen.“Deshalb hat man in Bremen – und das ist einzigartig in der Republik und vielleicht in ganz Europa – getrennt geschlechtliche Schulverweigerer-Gruppen. Brüssel schießt deshalb drei Jahre lang Geld zu. Außerdem zahlt neben der Bildungsbehörde auch das Jugendamt. Das Projekt gilt als Präventionsmaßnahme. „Denn wenn wir solchen Jugendlichen heute nichts anbieten, ist es absehbar, daß sie in Langzeitarbeitslosigkeit, vielleicht auch im Knast landen.“

Lehrer Ueter sieht das auch. Aber er sucht die Fehler nicht nur bei den Jungen, die allesamt in Familien großgeworden sind, wo Gewalt an der Tagesordnung ist. „Es liegt auch an den Schulen, wo die Klassenstärken ständig heraufgesetzt werden. Gerade an den Hauptschulen sammeln sich oft so viele Problemfälle, daß Lehrer zwangsläufig kapitulieren.“Die Folge: Mancher aufmüpfige Schüler mit heftigen Problemen wird quasi aus dem Weg geboxt. Der Quertreiber will dann auch nicht mehr. „Zurück in die Schule?? Nie wieder“, sagen die jungen Schulschiffer.

Eva Rhode