Alles fern, Gans nah

■ Mit "Leben des Galilei" bog das Berliner Ensemble in die Zielgerade zum Brecht-Jahr ein. Allerdings wird der Galilei von Josef Bierbichler gespielt, und alles ist ganz unheroisch inszeniert

Der Schriftzug, den sich das Berliner Ensemble zur Premiere am vergangenen Freitag auf die Fahne geschrieben hat, sieht auf den ersten Blick aus wie der des Kaufhauses Galeries Lafayettes. Jedenfalls, wenn man aus den Einkaufszonen der Friedrichstraße kommend, ohnehin gerade beim Thema ist. In Wirklichkeit steht da natürlich etwas anderes, nämlich „Brecht Galilei“, schwarz auf weiß untereinander gesetzt: die originalen Unterschriften beider Herren, entsprechend vergrößert und sich im gemeinsamen Schwung spitz ausfahrender Unterbögen tatsächlich ähnelnd. Ein Etikett des Erhabenen wie des Authentischen, das wohl nicht nur das künstlerisch schwer angeschlagene BE rehabilitieren, sondern auch den Namen Brechts aus der Schußlinie der Bettkantenforscher holen soll.

Mit Brechts „Leben des Galilei“, dem Jahrhundertstoff von den Grenzen der Wissenschaft und der Wandelbarkeit der Wahrheit in der Inszenierung des ehemaligen Brecht-Assistenten B.K. Tragelehn, biegt das BE in die Zielgerade zu den Feierlichkeiten anläßlich des 100. Geburtstags von Brecht am 10. Februar 1998 und wird die Jubelauslage am Schiffbauerdamm eröffnet.

Gespielt wird die erste von drei „Galilei“-Fassungen, die von 1938, stark gekürzt und mit einer später verfaßten Szene als neuem Schluß. Und allen Beteiligten des Brecht- Kollektivs widerfährt Gerechtigkeit: Margarete Steffin wird als Mitarbeiterin deutlich genannt, und weil die Erben von Hanns Eisler dagegen protestierten, daß der „Galilei“ ohne die übliche Eisler- Musik aufgeführt werden sollte, gibt es nun, trotz des eigens vergebenen Kompositionsauftrags, überhaupt keine Musik.

Auch eilt wie bestellt, um B.B.s Aktualität zu beweisen, eine Gruppe Streikstudenten ins Foyer, stellt sich im Halbkreis auf und intoniert einen Choral: „Bildung krepiert, weil Dummheit regiert.“ Hier zu klatschen kostet nichts, und die Plakativität der These mag der Form des Auftritts geschuldet sein. Brecht natürlich hat sich der Sache differenzierter genähert, was man drinnen sogleich in Marmor gegossen zu sehen erwartet. Es kommt aber anders.

Galileo Galilei (1564–1642) war ein Pionier der modernen Naturwissenschaft. Er bewies durch Planetenbeobachtung das kopernikanische Weltbild: daß sich die Erde um die Sonne dreht. 1633 widerrief er auf Drängen der Inquisition, doch ohne Not der Folter. Die Gründe dieses Widerrufs beschäftigten Brecht 1938, 1946/47 und 1955. Wissenschaftlich ein Sündenfall, ist der Widerruf menschlich als Schwäche des Renaissancemenschen Galilei zu motivieren und zu entschuldigen oder zu verdammen, aber auch als Folge ethischer Skrupel. Eine ergiebige Parabelsituation, zumal auch der Kirche eine starke Position zugewiesen wird: die des Machterhalts durch sinnstiftende Ideologie. Ein Stoff unseres Jahrhunderts eben, ein Schlüsselstoff des Jahrhundertdichters vor und nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki, vor und nach der Niederschlagung des DDR-Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953.

Tragelehn aber, und das ist schön, läßt das Jahrhundert Jahrhundert sein. Er ließ sich von Hans-Joachim Schlieker ein paar Stühle auf die nackte Bühne stellen, einen Wasserbottich für die Morgentoilette, darin Josef Bierbichler als Galilei: nackt. Auch Uwe Steinbruch als Papst Urban VIII. ist später nackt zu sehen, bevor man seine Gewänder auf ihn häuft. Die Nacktheit wäre nicht nötig, stört aber auch nicht, sondern zeigt, wie unverstellt es Tragelehn ums Menschliche zu tun ist.

Der kleinwüchsige Schauspieler Karl-Heinz Tittelbach sagt die Szenenwechsel an und erzählt dabei immer noch einen aus seinem Leben. Was er wie sieht beziehungsweise gerade nicht sieht, wie sich die Umwelt mit ihm schwertut und er sich mit ihr. Am Ende des Milleniums, soll das wohl heißen, geht es nicht um wissenschaftliche, sondern um soziale Aufklärung, ist das Miteinanderleben das Experiment. BE grüßt Grips Theater, nein, ohne Witz: In dieser Richtung ist die Sache angelegt, und im Zuschauerraum bleibt meist das Licht an. Es ist kein Auf-, sondern ein Niedergehen um uns, rückt zusammen und fürchtet euch nicht.

Paßgenau und typgerecht zeigt Bierbichler den Galilei in keiner Minute als Getriebenen, sondern von Anfang an als Gescheiterten. Schon wenn Galilei dem kleinen Andrea euphorisch seine Ideen erklärt, spielt Bierbichler die spätere Erblindung mit, nichts wirklich fixierend, hastig und leise ins Leere sprechend. Im Widerruf vor der Inquisition erst findet dieser Galilei Erfüllung, neigen sich Bierbichlers schwere Schultern zu Recht und bekommt die flüchtige Verschwommenheit des Spiels Kontur und Gewicht. Glücklich ein Land, das Antihelden hat.

Ja, was soll man weiter sagen! Eine Skizze, eine Tragelehnsche auf offener Bühne. Viele spielen viele Rollen. Alle sprechen so ihren Text weg. Mal trägt Armin Dillenberger Hasenzähne, mal Mira Partecke als Tochter Virginia einen Jogginganzug, wenn sie den hausarrestierten Alten pflegt. Den Problemen der Welt enthoben ist das einzige Rätsel am Ende, welcher durchreisende Fremde denn nun die Gans gespendet hat. Eine Weihnachtsgeschichte. Tragelehns Ansatz ist sympathisch unheroisch und antizyklisch. Aber offengestanden macht das Zuschauen bis auf die letzten zwei, drei Szenen nicht wirklich Spaß. Es erhellt auch nicht, denn Tragelehn deutet zwar auf das soziale Experiment, erzählt aber nicht davon, sondern müht sich so durch die Geschichte.

In der letzten, angehängten Szene, liest Virginia ihrem Vater Inschriften aus der Decke der Bibliothek von Montaigne vor. „Bewundernswert ist das Gute“, liest sie, und Galilei ruft: „Lauter!“ Bierbichler und Partecke sitzen in einem Lichtkegel, sonst ist alles dunkel, auch der Saal. Erstmals herrscht so etwas wie eine Spannung, jetzt könnte die Geschichte beginnen. Aber im Gegenteil ist in diesem Moment der Text alle. Herzlich willkommen im Brecht- Jahr. Petra Kohse