Die Quadratur der Lehmhütte

In der Heimatregion des südafrikanischen Präsidenten heißt jeder zweite Mandela. Aber was tut der ANC schon für die Bauern in den kalten Bergen der ehemaligen Transkei?  ■ Von Kordula Doerfler

Der alte Mann kommt langsam ans Tor. Er geht mühsam am Stock. Neugierig ist er aber doch. Sein Englisch ist nur bruchstückhaft, deshalb müssen die wachhabenden Polizisten übersetzen. Doch, es kommen oft Besucher her, vor allem aus dem Ausland. Aber betreten darf man weder Grundstück noch Haus. Das ist schließlich kein Museum, sondern das Haus des Präsidenten. Jedes Jahr zu Weihnachten macht der hier Urlaub, und wenn er einmal nicht mehr Präsident ist, wird er sich hier zur Ruhe setzen.

Der alte Mann freut sich darauf. Er heißt Mandela, Morris Sitsheketsha Mandela. In Qunu, einem kleinen Dorf im Südosten Südafrikas, trägt jeder zweite den Namen Mandela. Hier verbrachte Nelson Rolihlahla Mandela, heute einer der berühmtesten Männer der Welt, seine Kindheit. Morris ist sein Bruder.

Nach europäischen Verwandtschaftsdefinitionen stimmt das nicht ganz. Nelson Mandela hatte 13 Geschwister, davon drei ältere Brüder. Die aber sind längst tot. In der Xhosa-Kultur aber gelten Cousins und Cousinen als leibliche Brüder und Schwestern.

In Morris Mandelas Personalausweis steht der Familienname „Medela“. Der alte Mann schüttelt den Kopf und lacht schüchtern. Vermutlich über den weißen Apartheid-Beamten, dem es damals einerlei war, wie der Xhosa- Name richtig geschrieben wird. Er konnte ja nicht ahnen, was aus den Mandelas einmal wird.

Nelson Mandela hat für Morris gesorgt. Auf der anderen Seite der Hauptstraße, die durch Qunu läuft, hat er ihm ein Haus bauen lassen. Nicht so groß wie das Ziegelanwesen, das er selbst bewohnt, aber doch ein ordentlich gemauertes, eckiges Haus. Die meisten Menschen in Qunu leben in Rundhütten aus Lehm, oft in leuchtendem Türkis-Grün gestrichen. 1990, als Nelson Mandela nach fast 30 Jahren im Gefängnis erstmals an den Ort seiner Kindheit zurückkehrte, war er schockiert, wie wenig sich geändert hatte.

Das gilt auch heute noch. Nelson Mandela ist seit fast vier Jahren Präsident Südafrikas, seine Heimat im ehemals „unabhängigen“ Homeland Transkei aber ist so arm wie eh und je. Die Landschaft ist grün und hügelig. Zu jeder Rundhütte gehört ein winziger Acker, Kinder spielen mit Plastikmüll im Dreck. Esel liegen auf den schlammigen Wegen herum. Verglichen mit den dürren Regionen im Norden Südafrikas haben die Menschen an der Küste diesen einen Reichtum: Regen. Eine Wasserleitung für alle gibt es in Qunu aber trotzdem nicht und auch keinen Strom. Nur Nelson Mandela hat seit vergangenem Weihnachten fließendes Wasser in seinem Haus.

Thabo Mbeki? Nie gehört

„Die Menschen leiden noch immer“, sagt ein junger Mann, der sein Haus neu verputzt. „Es gibt keine Arbeit, und die Regierung entläßt ständig Leute.“ Der junge Mann heißt auch Mandela. Er ist stolz darauf, obwohl ihm das bisher nicht viel geholfen hat. Selbstverständlich wählt er den ANC. Das tun alle hier. Selbstverständlich findet er es richtig, wenn bald Thabo Mbeki zum Nachfolger von Nelson Mandela gewählt wird. „Obwohl“, und hier macht er eine kleine Pause, „ich weiß gar nicht viel über Thabo Mbeki. Kennen Sie ihn?“

Auch Mbeki stammt aus einer namhaften Xhosa-Familie, wie viele prominente ANC-Mitglieder. Hier, bei den Xhosas in der heutigen Ostkap-Provinz, die die Region zwischen Port Elizabeth und der Grenze zu Lesotho mit den früheren Homelands Ciskei und Transkei umfaßt, hat die Befreiungsbewegung ihre Wurzeln, hier war die Unterdrückung des Apartheid-Regimes besonders brutal. Fast 85 Prozent haben in den ersten freien Wahlen 1994 den ANC gewählt. Vor allem die Zulus monieren immer wieder, der ANC sei eine reine Xhosa-Partei.

Niemand zweifelt daran, daß Mbeki das Zeug zum nächsten Präsidenten hat. Im Gegensatz zum charismatischen Mandela aber ist er von radikalen Township-Jugendlichen und armen Kleinbauern weit entfernt. Er kennt sie nicht, und sie kennen ihn nicht. Seine steile politische Karriere hat Mbeki im Exil gemacht. Bewegt sich der 55jährige smarte Pfeifenraucher an der ANC-Basis, wirkt er deplaziert.

Winnie Mandela? Kein Kommentar

Eine Diskussion über den neuen Parteivorsitzenden gibt es im ANC nicht. Lange schon ist Thabo Mbeki der Kronprinz, und Nelson Mandela wird sich 1999 nach Ablauf der Legislaturperiode aus der Politik zurückziehen. Mit dem Wechsel an der Parteispitze diese Woche wird das nun eingeleitet.

Wenn sich ab morgen rund 3.000 ANC-Delegierte in Mafikeng, der einstigen Hauptstadt des Homelands Bophutatswana versammeln, hat die Parteiführung dennoch ein handfestes Personalproblem. Es heißt Winnie Madikizela-Mandela und kommt ebenfalls aus der Transkei. Läßt man in diesen Wochen vor dem Parteitag bei ANC-Aktivisten ihren Namen fallen, gibt es drei Reaktionen.

Erstens: Man schätzt sie, kritisiert sie aber auch. „Sie ist nicht geeignet, die Partei zu führen“, sagt zum Beispiel Arnold Stofile, Ministerpräsident der Ostkap-Provinz und zugleich Schatzmeister der Partei. So ein klares Wort wagt indessen kaum einer. Zweite mögliche Reaktion: Man verehrt sie bedingungslos. „Sie verdient ein hohes Amt“, sagt zum Beispiel Lindile Matunya, Lehrer an der Grundschule in Qunu. „Sie tut alles für die Armen.“ Drittens, und das ist am häufigsten: Man versucht, das heiße Eisen zu umgehen. Eloquente Genossen verstummen ganz plötzlich, wenn von der umstrittenen Ex-Gattin des Präsidenten die Rede sein soll, oder vergewissern sich rasch, was andere zu dem Thema gesagt haben.

Dabei hat die einstige Befreiungsbewegung wichtigeres zu tun. Wer darf zum Parteitag fahren? Ein Ortsverband muß mindestens 100 Mitglieder haben, um Delegierte schicken zu können. Auf dem Papier haben das viele, zumal in der Ostkap-Provinz. Die Praxis sieht anders aus, denn es müssen zahlende Mitglieder sein.

„Wir haben 260 Mitglieder“, sagt der Parteisekretär für die Provinzhauptstadt, Litha Twaku. Doch dann verbessert er sich: Nur 200 haben ihre Mitgliedschaft formal auch erneuert. Da der ANC nun regiert, glauben viele, er brauche ihre Unterstützung nicht mehr so notwendig. Doch die Partei hat kein Büro, zu den monatlichen Treffen erscheint kaum jemand.

Auch die Genossen im 300 Kilometer entfernten Umtata, der früheren Hauptstadt der Transkei, werden schweigsam, wenn es um Strukturen geht. Ein vorbereitendes Treffen für den Parteitag? Die Vorstandsmitglieder winden sich. „Es gibt Probleme. Wir sind dabei, uns neu zu organisieren.“

Die Parteiführung im weit entfernten Johannesburg würde das gar nicht gern hören. Denn sie legt Wert auf Disziplin und ist intellektuell höchst anspruchsvoll. Ihr Stil ist noch immer stark durch die akademische, manchmal stalinistische Diskussionskultur im Exil geprägt und weniger durch den Umgang mit armen Bauern, die nicht lesen und schreiben können.

Seit Mai schon hat man vorbereitende Dokumente für den Parteitag verschickt, die die Genossen vor Ort diskutieren sollen: Südafrikas Außenpolitik oder Neue Parteistrategien. „Der ANC sollte den Charakter einer Befreiungsbewegung beibehalten und zugleich eine politische Partei sein“, wird da etwa vorgeschlagen. Diese Quadratur des Kreises bereitet den Intellektuellen in der Parteispitze großes Kopfzerbrechen. In den ländlichen Gebieten indessen geht es für viele ums nackte Überleben.

Nelson Mandela? Hat nichts verbessert

„Sie haben uns ein besseres Leben versprochen“, redet sich ein alter Mann in Rage. „Nichts ist besser. Wir haben noch immer kein Wasser, keinen Strom, keine Straßen. Und Arbeit gibt es noch weniger als zuvor.“ Er ist der Häuptling von Tabase, einem kleinen Dorf 30 Kilometer außerhalb von Umtata. Der fremde Besuch löst gleich eine Versammlung der Dorfältesten aus, auf der erregt debattiert wird.

„Natürlich sind wir alle ANC- Anhänger“, schreit einer. „Unser Mann ist Bantu Holomisa“, sagt ein anderer. „Wir wissen nichts über Thabo Mbeki.“ Die anderen nicken beifällig. Ja, Bantu Holomisa würden sie wählen. Nur: Den letzten Militärchef der Transkei, der 1994 dem ANC beitrat, hat die Partei letztes Jahr hinausgeworfen. Jetzt hat der alerte Politiker gemeinsam mit Roelf Meyer, dem einstigen Generalsekretär der Nationalen Partei, eine neue Partei gegründet, die „Vereinigte Demokratische Bewegung“ (UDM).

In der Transkei ist Holomisa sehr populär. Dort hat man längst vergessen, wie schwer das Leben früher war. Ist heute nicht alles viel schlimmer? „6.000 Lehrer werden entlassen“, regen sich die Dorfältesten auf. Das stimmt. In den ehemaligen Homelands Transkei und Ciskei existieren sogenannte Geisterlisten: Gehaltsempfänger, die längst tot sind, Lehrer, die ihr Salär dreimal einstreichen. Nirgends in Südafrika ist der öffentliche Dienst so verrottet und korrupt wie in der Ostkap-Provinz. Die Regierung hat gar keine andere Wahl, als unpopuläre Maßnahmen zu treffen.

Das kann dem ANC noch gefährlich werden. „Wir wollen eine neue Regierung“, schimpfen die alten Männer in Tabase. Nur einer ist besonnen genug, etwas mehr Zeit zu fordern.