Nur große Auftritte im Sitzungssaal 201

Wenn morgen der Prozeß um den Mord an der siebenjährigen Natalie fortgesetzt wird, spielen alle ihre Rolle – Reporter, Anwälte, der Angeklagte. Selbst die Eltern des Opfers hat der Sog zum Spektakel erfaßt  ■ Aus Augsburg Klaus Wittmann

Es dauert nicht lange und sie wird spürbar, diese Parallel-Welt. Da ist die öffentlich bis zum Gehtnichtmehr zelebrierte Medienshow des Natalie- Prozesses, die ihren von uns Journalisten und der Gesellschaft vorgegebenen Ritualen folgt. Und dann gibt es die andere Seite, die im Stillen existiert und oft im Widerspruch zum Geschehen steht, wie es die Fernsehbilder widerspiegeln. Der Gerichtsreporter steckt mittendrin, will dabei sein, wenn es heißt, als erster die vermeintliche Sensationsmeldung auf den Sender oder zu Papier zu bringen.

Der erste Prozeßtag. Die Spannung ist körperlich spürbar. Das mächtige Augsburger Justizgebäude – ausgebaut zu einer Festung. Metalldetektorenrebellion beim Fünfmarkstück in der Hosentasche. Was ist hier los – ein Terroristenprozeß? Morddrohungen gegen den Angeklagten seien eingegangen, heißt es. Aber wird hier nicht auch, unbenommen aller berechtigter Sicherheitsvorkehrungen, eine etwas zu aufgeblasene Show inszeniert?

Überall verteilen sich Polizisten im Sitzungssaal 201 – im selben Saal, in dem vor Jahren die Revisionsverhandlung gegen den Frauenarzt Horst Theissen so souverän über die Bühne ging. Einen kleinen Moment ist der Gedanke daran da, daß das ja derselbe Vorsitzende Richter, derselbe Staatsanwalt waren. Dann wird Armin Schreiner in den Saal geführt. Der 29jährige, ein mutmaßlicher Sexualmörder. Mutmaßlich, weil er trotz seines Geständnisses so lange als unschuldig zu gelten hat, bis er rechtskräftig verurteilt ist.

Die Astners sind doch gekommen, die Eltern der ermordeten Natalie. Der Vater, kräftig, mit langen blonden Haaren, Harley-Davidson-T-Shirt unter dem karierten Hemd, mit mächtigen Armen. Daneben, in sich zusammengekauert, die schmächtige und sichtlich gezeichnete Mutter. Das Bild ihrer Tochter, das hundertmal über die Bildschirme flimmerte, durch die Zeitungen ging, dieses Schwarzweißbild der lachenden Natalie, habe ich plötzlich wieder vor Augen.

Armin Schreiner beginnt, sein Geständnis zu verlesen. Skurril ist das. Ein vorformuliertes Pamphlet, unterbrochen von künstlichem und manchmal deplaziert wirkendem Schluchzen. Zweimal liest dieser Mann vor, „mein Gehirn explodierte“. Einmal zu oft.

Kaum hat Schreiner begonnen, von Depressionen, von seinen Problemen mit Frauen, von Schulden und vom gesperrten Telefon zu sprechen, da springt Hannes Astner auf und stürmt auf ihn zu. „Du Drecksau! Ich kann diese Heuchelei nicht ertragen!“ brüllt er. Von drei Polizisten wird er aus dem Gerichtssaal gezerrt und den Gang hinter in das für die Familie reservierte und streng bewachte Zimmer gebracht. Ich weiß nicht genau warum, aber dieser Gefühlsausbruch kommt mir zu früh, wirkt aufgesetzt, kommt im falschen Moment.

Wieder fühle ich mich wie im Theater, wo auch dieser Vater nur seine Rolle spielt, eine Rolle, die man von ihm erwartet, der er sich verpflichtet fühlt. Ich versuche, diese Gedanken zu verdrängen. Mir fällt das Interview ein, im Privatfernsehen, wo er exklusiv verkündete: „Ich bringe diesen Typ um!“ Das in aller Stille wegen „Ankündigung einer Straftat“ eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen ihn ist längst eingestellt. Draußen auf dem Gang beginnt die Jagd nach Interviews. Aufgebrachte – echte und künstlich aufgebrachte – Prozeßbeobachter bellen Sprüche von Todesstrafe und „Schwanz ab“ in die Mikrophone.

Als es weitergeht, sitzt der Angeklagte wieder reglos hinter seiner Scheibe. Ein Mensch, der wie kaum ein anderer ein Von-vorne- Gesicht und ein ganz anderes Von- hinten-Gesicht hat. Von hinten – und das sehe ich stundenlang – sieht er aus wie ein Mittfünfziger mit fortgeschrittener Halbglatze, von vorne wie ein Mittdreißiger.

Ich habe oft in Gerichtssälen erlebt, daß ich versuche, die Tat und den Täter zu verstehen. Mir will das bei diesem Mann einfach nicht gelingen. Ich denke, es ist dieses vorgefertigte, verlesene Geständnis, das in höchstem Maße unangebracht, ja unanständig ist. Eine absurde Inszenierung. Der Anwalt spricht den ganzen Tag kein Wort mit seinem Mandanten. Aber dafür gibt er um so mehr Interviews.

Mit geschwellter Brust schreitet der Verteidiger zur Tat, seine Vergangenheit in der Kanzlei von Star- und Skandalanwalt Bossi liegt als Hauch von Überlegenheit über seinem Gesicht. Am Donnerstag die Ankündigung des Christoph Lang, er würde am Montag morgen noch die Gutachter befragen. Nachmittags könne dann plädiert werden. Am Samstag sein Anruf beim Vorsitzenden Richter. Die Gutachter würden nicht mehr gebraucht, er habe keine Fragen mehr. Am Montag dann die Ankündigung eines Befangenheitsantrags gegen einen der Gutachter – und weitere Beweisanträge. 60 Seiten wolle er verlesen, verkündet Christoph Lang und dann ging es los. Ewig lange. Im Saal schien kein Mensch zu wissen, was das soll. Die Masturbationsphantasien des Angeklagten seien zuwenig erörtert worden. Welche Auswirkung es auf den Angeklagten gehabt habe, daß er als Baby nicht gestillt wurde, wie es auf ihn gewirkt habe, daß der Vater angeblich ein Säufer war. Und und und.

„Fremdgesteuert“, unterstellt der Staatsanwalt und die bedächtige Nebenklägervertreterin Marion Zech glaubt gar, die Handschrift just jener Münchner Gutachterin zu erkennen, die der Anwalt vergeblich durchboxen wollte und mit der, rein zufällig, ein früherer Kanzleikollege aus Bossi-Zeiten verheiratet ist.

Als da plötzlich Hannes Astner hochspringt und diesmal auf den Anwalt zustürmt, als er versucht, ihn zu bespucken und ihm sein obligatorisches „Drecksau“ entgegenschmettert, da wirkt dieser Ausbruch auf mich weit weniger gekünstelt und inszeniert als der erste.

Da springt dieser Mann stellvertretend für viele diesen Anwalt an, der ganz offensichtlich noch immer nicht kapiert, wie sehr er daneben gegriffen hat in seinem Übereifer.

Der Anwalt will noch ein Interview geben, doch ganz so wie geplant läuft das diesmal nicht. Unter Polizeischutz muß er durch einen Nebenausgang den Justizpalast verlassen. Die Tumulte draußen auf dem Flur wirken schon wieder bedrückend gekünstelt.

Ein langer Mensch mit einer Baseballmütze brüllt ein wenig durch die Gegend. Die Kamerateams werden aufmerksam, bitten ihn, die Drohungen, er werde Schreiner umbringen, noch einmal zu wiederholen. Tut er. Und bekommt dafür prompt ein Ermittlungsverfahren wegen „Ankündigung einer Straftat“. Die Inszenierung nimmt ihren Lauf.

Durch Zwischenfälle wie diesen verliert der Prozeß an Seriosität, für die Gericht und Staatsanwaltschaft bislang gesorgt hatten. Mir fällt der Satz von Marion Zech, der Anwältin der Familie Astner, wieder ein. „Wir haben uns in einem sehr sensiblen Gleichgewicht befunden. Und diese Aussetzung jetzt, die durch den Antrag des Verteidigers fraglos nötig wurde, die hat ihnen (den Astners, d. Red.) den Rest gegeben.“

Den Rest geben. Im überraschend eingeschobenen nichtöffentlichen Teil fällt diese Rolle völlig unerwartet auch dem Bruder und den Eltern von Armin Schreiner zu. Als notorischen Lügner bezeichnen sie den Angeklagten. Als die Mutter den Gerichtssaal betritt, hält sie sich ein Blatt Papier so vors Gesicht, daß sie ihren Sohn nicht sehen muß. Freiwillig sind sie gekommen, denn als Familienangehörige müssen sie nicht aussagen. Sie wollen ganz offensichtlich diesem Theater ein Ende bereiten. Für Armin Schreiners Mutter, das wird mit einem Mal sehr deutlich, ist der Sohn für immer gestorben.