Die Türkei kehrt Europa den Rücken

■ Der türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz bricht alle politischen Gespräche mit der Europäischen Union ab und boykottiert die Europa-Konferenz. EU soll sich im Zypernkonflikt und bei Menschenrechtsfragen heraushalten

Brüssel (taz) – Die türkische Regierung will den politischen Dialog mit der EU abbrechen. Ministerpräsident Mesut Yilmaz sagte gestern nach einer Dringlichkeitssitzung seines Kabinetts, seine Regierung werde mit der EU nicht mehr über Menschenrechte und auch nicht mehr über Zypern reden. „Niemand kann von der Türkei erwarten, daß sie diese politischen Probleme löst und gleichzeitig EU-Bedingungen erfüllt, um die volle Mitgliedschaft zu erreichen“, sagte Yilmaz.

Kurz zuvor hatte er bereits die Teilnahme an der eigens für die Türkei entworfenen Europakonferenz abgesagt und zudem mit einer engeren Anbindung des besetzten Nordzypern an die Türkei gedroht. Die türkischen Zyprioten lehnten zudem die Teilnahme an einer gemeinsamen Delegation mit den Zyperngriechen für die EU-Beitrittsverhandlungen ab.

Die Türkei will die Europäische Union dafür bestrafen, daß die 15 EU-Regierungschefs den Beitrittswunsch Ankaras vorerst abgelehnt haben. Ankara glaubt offensichtlich, die EU zwingen zu können: „Wir streben Beitrittsverhandlungen ohne Vorbedingungen an“, sagte Yilmaz. Auf dem Gipfel am Wochenende in Luxemburg hatten die EU-Chefs die Erweiterung der Europäischen Union um zehn mittel- und osteuropäische Staaten plus Zypern eingeleitet, der Türkei aber nur eine langfristige EU- Perspektive in Aussicht gestellt. Das Land komme zwar für einen Beitritt grundsätzlich in Frage, heißt es in der Schlußerklärung, müsse aber vorher grundlegende Bedingungen erfüllen.

So erklärte der Luxemburger Premier und derzeitige EU-Ratspräsident Jean- Claude Juncker: „Am Tisch der Europäischen Union können keine Vertreter eines Landes sitzen, in dem gefoltert wird.“ Außerdem müsse die Türkei im Ägäisstreit mit Griechenland den Internationalen Gerichtshof anerkennen und damit aufhören, mit militärischen Drohungen Politik zu machen.

Der Streit mit der Türkei dämpfte die Stimmung auf dem EU-Gipfel, den die 15 Regierungschefs gerne als Ende der europäischen Teilung gefeiert hätten. Denn acht Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die EU endgültig festgelegt, gesamteuropäisch zu werden. Im März nächsten Jahres werden die Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern beginnen. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von einem „historischen Datum in der Geschichte unseres Kontinents“, räumte aber ein, daß die ersten Länder voraussichtlich erst 2002 oder 2003 aufgenommen werden. Auf dem Gipfel stellten die 15 Staats- und Regierungschefs der EU auch Lettland, Litauen, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien die Mitgliedschaft in Aussicht. Sie werden in einen erweiterten Beitrittsprozeß aufgenommen. Neben regelmäßigen Ministertreffen und finanzieller Hilfe für die notwendigen Reformen bedeutet das vor allem, daß alle sechs Monate überprüft wird, welches Land wirtschaftlich und politisch reif für konkrete Beitrittsverhandlungen ist.

Auf diese Weise könnten in den nächsten Jahren Litauen oder Lettland in die erste Gruppe aufrücken. Die größten Chancen hat die Slowakei. „Es wird keine Paketlösung geben“, versicherte Kohl, die Länder würden einzeln in die EU aufgenommen.

Um den Start der Beitrittsverhandlungen nicht zu gefährden, klammerten die 15 Regierungschefs in Luxemburg alle strittigen Fragen aus, die vor einer Erweiterung innerhalb der EU noch geklärt werden müssen. Das betrifft vor allem die Finanzierung, die Agrarpolitik und die Reform der schwerfälligen Abstimmungsregeln. Ohne eine Abschaffung des Vetorechts beispielsweise würde eine EU mit 20 oder mehr Mitgliedern entscheidungsunfähig.

Für die Finanzierung der Erweiterung fordern Spanien und Portugal, notfalls die Mitgliedsbeiträge zu erhöhen. Besonders die deutsche Regierung lehnt das ab und möchte statt dessen die Finanzhilfen für wirtschaftlich schwache Regionen kürzen. Das würde in erster Linie die Mittelmeerländer betreffen.

Bei der Agrarpolitik ist es noch komplizierter: Während die Landwirtschaftsminister der 15 EU-Regierungen das Subventionssystem für die Bauern möglichst nicht antasten wollen, scheint sich bei der Mehrheit der Regierungschefs langsam die Vernunft durchzusetzen. Eine offene Diskussion über eine Umschichtung der Subventionen ist erst unmittelbar vor den ersten EU-Beitritten zu erwarten. Keine Regierung will die Bauern ohne Not gegen sich aufbringen. Nach aller Erfahrung wird das Problem erst gelöst, wenn es nicht mehr anders geht. Alois Berger

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