Niedertracht in den Hochalpen

■ Menschen im Hotel: „Zur schönen Aussicht“, eine böse Ansicht von Ödön von Horváth, hatte im Schauspielhaus belachjubelte Premiere / Gruppenbilder mit Dame: erst devot, dann gemein

Sie sind genau wie wir. Nämlich nicht das, was sie zu sein scheinen. Die Helden von Ödön von Horvaths Kammerspiel wurden vom Schicksal in billige Chauffeurs-Livree und sklavige Kellnerkluft zwangsverfrachtet. Dabei schlagen in ihren Herzen die Neigungen zum Künstler, Plakatgestalter, Offizier und anderen schönen Dingen. Aber die schnöde Welt will das edle Pumpen nicht hören. Was bleibt da anderes über, als auf ihre Gemeinheit mit einer doppelten Portion Gegen-Gemeinheit zu reagieren? Nichts ist natürlicher. Und so verschachern Max, Karl und Strasser überteuerte Autos und ihre Körper gegen Geld. Gegen dasjenige der reichen Freifrau von Stetten. Die nämlich hält die geschlossene Gesellschaft eines heruntergekommenen, leergefegten Berghotels aus.

Bürgerliche Prostitution ist ein Lieblingsthema von Ödön von Horvath. Im „ewigen Spießer“, in „Kasimir und Karoline“und in den Wienerwaldgeschichten lauert hinter den großen, warmen Gefühlen die kalte Berechnung: Mal bei den Frauen, die sind dann aber meistens tragische Opfer widriger Umstände, mal bei den Männern. Die sind dann einfach nur schlecht. Horváth war eben ein früher Feminist – oder ein altmodischer Anhänger der Theorie vom weichen, hilflosen Geschlecht.

Außerdem reißt er gerne dem Spießer die Maske vom Gesicht. Eigentlich ein ziemlich spießiges Unterfangen. Denn hinter dem bösen Klamauk des Stücks reckt sich spitz der Zeigefinger: wie gemein sind doch die Menschen – und wie einfach gestrickt. Aber einfach gestrickt ist vor allem Horváths Menschenbild. „Zur schönen Aussicht“zeigt nicht zuletzt, daß eine kritische Weltsicht genauso doof sein kann wie eine harmonistische. Mythen zu zerhauen ist oft kaum klüger, als sie zu installieren.

Die launige Inszenierung von Barbara Bilabel aber bringt dem Zeigefinger Geschmeidigkeit bei. Dafür kann man ihr nur dankbar sein. Der Aufmarsch der Fieslinge auf der Schauspielhausbühne ist ganz entzückend. Der Zuschauer schließt die geballte geld- und liebesgierige Niedertracht sehr bald ins Herz. Das liegt nicht zuletzt an der freilebigen Freifrau, die schönste und sinnigste Fehlbesetzung der Saison. Wo der Text eher eine tumbe, fette Kuh vors geistige Auge wuchtet, läßt Gabriele Möller-Lukasz den Sex appeal halb abgeklärter, halb abgebrühter reifer Damen versprühen, so heftig wie die Regie den Sekt. Nach Fidelio haben wir in Bremen jetzt schon die zweite Inszenierung mit exorbitantem Alkoholverschleiß! Ob da irgend jemand in der Bühnenausstattung einen Beratervertrag mit einem Getränkelieferanten nutznießt? Der Alkohol bewirkt aber immerhin zweierlei. Wie allen so oder anders Volltrunkenen kann man Horváths Unholden kaum böse sein. Kotzend über den Eimer gebeugt, wird bei den zynischen Händler- und Krämerseelen so etwas wie existenzielle Verzweiflung freigesetzt. Als Magenkrampf getarnt. Das sind dann die schönsten Momente, wenn Lachen, Heulen und Zähneknirschen fließend ineinander übergleiten.

Im Alkoholnebel verflüchtigt sich die vermeintlich so unerbittliche Entlarvung des bürgerlichen Egoismus zu einem leichtfüßigen Stück Kabarett mit einer ganzen Menge von Grimassen und Armgewedele. Christoph Finger, Dirk Plönissen und Peter Pagel machen das so perfekt, daß das Publikum quiekend im Spaß versinkt. Nur manchmal blinkt aus dem ergötzlichen Taumel die Frage aller Fragen hervor: Warum? Brauchen wir heute, viele Jahre nach Luhmanns genialer historischen Verortung der romantischen „Liebe als Passion“, noch Horváths grobhölzern statuiertes Liebes-Ernüchterungs-Exempel? Hunderttausende verschiedene Liebeskonzepte schwirren durch den Äther. Aber ans Geld wird die Liebe heute kaum mehr verraten.

Barbara Bilabel hütet sich, die Frage nach dem Warum zu beantworten. Wahrscheinlich zu Recht. Weder Requisiten noch Bühnenbild wedeln mit Metaphern, um irgendwelche Deutungsmöglichkeiten freizulegen. Bühnenbild und Kostüme sind einfach nur schön. Sehr schön und sehr aufwendig. Und so beschränkt sich die Regie darauf, möglichst viel Spaß aus der Sache herauszuholen. Natürlich mit Erfolg. (Zumal das schönste Dekolletee von ganz Bremen zu bewundern ist.)

Besonders schön ist die Konzeption der Figur der Christine. Horváth unterliegt der Machismo-Gefahr, diese naive große Liebende zur Heiligen und Märtyrerin aufzustylen. Die Regisseurin erzwingt auch hier echte Horváthgnadenlosigkeit und zeigt eine richtig dumme Pute. Am Ende bekommt sie in dieser Inszenierung zwar durchaus ihren Heiligenschein, aber in dessen Glanz tummeln sich lustige, knuddelige Schafe.

Fast schon würdevoll dagegen ist die Würdelosigkeit der Freifrau. Sie weiß, daß nicht sie, sondern ihr Geld die Herzen ihrer drei Männer erwirbt. Sie durchschaut – und spielt weiter. Womit wir wieder am Anfang wären. Barbara Kern

Weitere Aufführungen: 13. und 19. Januar