Press-Schlag
: You'll never walk alone

■ Das Ende eines Fußballvereins: Hessen Kassel mitten in der Saison pleite

Am Samstag morgen sind in und um Kassel einige junge und nicht mehr ganz so junge Männer ihre Kellertreppen hinabgestiegen, haben in den Ecken nach rotweißen Stoffstücken mit der Aufschrift „KSV Hessen Kassel“ gesucht und sind mit ziemlich mulmigen Gefühl zum Auestadion gefahren, wo sie ein letztes Mal die alten Lieder sangen. Fußball-Regionalligist Hessen Kassel ist pleite und wird sich aus dem laufenden Spielbetrieb zurückziehen.

Der Klub, der vor noch nicht allzu vielen Jahren auf dem Sprung in die Bundesliga stand und eine ganze Region verzauberte, ist an einer Überdosis Inkompetenz, Mißmanagement und Eitelkeit gestorben. Heruntergewirtschaftet von einer Führungsmannschaft, in dessen umstrittenen Mittelpunkt Manager Welz steht. Der einstige Kölner Torhüter, der sich selbst als „Mann von Welt“ versteht, wird von den Fans nur wütend als „der mit dem Goldkettchen“ bezeichnet. 1993 war Hessen Kassel schon einmal pleite – und erhielt sich durch eine später vom Landgericht Frankfurt als „unrechtmäßig“ deklarierte Neugründung die Drittklassigkeit. Nun gibt es keine Tricks mehr. Alle Punkte werden gelöscht, die Streichung aus dem Vereinsregister steht bevor.

1981 hatte sich Hessen Kassel als Zweitliganeuling sensationell Platz 4 und damit den nie erwarteten Sprung in die eingleisige 2. Bundesliga gesichert. Dreimal wurde dort der Aufstieg knapp verpaßt, am dramatischsten 1985, als die Kasseler monatelang auf Platz eins lagen und schon mal damit begannen, ihr Auestadion bundesligareif zu machen. Eine 1:2-Niederlage bei Absteiger Bürstadt leitete jedoch den Niedergang ein. Am letzten Spieltag wurde mit einem 0:2 beim 1. FC Nürnberg die Mitgliedschaft in der ersten Bundesliga verspielt, 1990 folgte der endgültige Abstieg aus dem Profifußball.

Zum letzten Spiel der Vereinsgeschichte gegen die Amateure des Karlsruher SC kamen noch einmal rund 300 Rotweiß tragende Fans – statt der sonst üblichen 20 bis 30. Insgesamt rund 1.500 Zuschauer, von denen viele schon lange nicht mehr im Auestadion waren, weil sie „die Nase voll hatten“. Heute sind sie noch einmal gekommen, um dem Klub, „dem ich zehn Jahre meines Lebens geschenkt habe“, die letzte Ehre zu erweisen. Solidaritätsdelegationen anderer Vereine waren ebenfalls dabei, denn „was hier passiert, droht vielen Vereinen“. Die Atmosphäre ist erstaunlich ruhig. Proteste finden nicht statt. „Wir sind schon so abgestumpft, das geht ja schon seit Jahren so, die Power ist verbraucht, wir sind nur noch traurig“, heißt es in einer Fan- Gruppe, die sich reichlich mit Bier eingedeckt hat. Vor dem Stadion verkauft ein älterer Herr die letzten Fan-Devotionalien. „Hessen Kassel – jetzt erst recht“ steht da drauf. Sein Umsatz ist außergewöhnlich gut.

Während des Spiels herrscht eine skurrile Stimmung. Bengalische Feuer, Schalparaden und La Ola wechseln mit wütenden „Wir wollen Fußball in Kassel“- Rufen ab. Inbrünstig singen sie „You'll never walk alone“, was wohl noch nie so zutreffend war. Mittendrin natürlich das Fernsehen, das sich derbe Sprüche gefallen lassen muß: „Ihr habt euch doch nie für uns interessiert, warum heute?“, blafft ein Fan das Team von Sat.1 an, das mit der Fan-Trauer besonders pietätlos umgeht. Als das Spiel zu Ende ist, stürmen die Fans das Spielfeld, während die auf der Haupttribüne andächtig stehen bleiben und klatschen. Viele haben Tränen in den Augen. Ein letztes Mal werden die abwandernden Spieler geherzt, dann sind sie allein mit ihrer Trauer.

Auf dem Heimweg erzählen sie im Radio von der Bundesliga. Der große Fußballzirkus zieht eben weiter. Nur für die Hessen-Kassel-Fans nicht. Die haben fortan Samstag nachmittag frei. Hardy Grüne