Das Gesetz des Aspromonte-Massivs

Das Versteck muß sicher sein, das Opfer reich. Unterwegs mit einem ehemaligen Entführer in Italien  ■ Vom Monte Antenna Werner Raith

Der Hochnebel ist so dicht, daß man sich durch Zuruf verständigen muß: In gut tausend Meter Höhe, hinauf zum Monte Antenna im kalabrischen Aspromonte-Massiv, hängen um diese Jahreszeit nahezu unentwegt Wolken. Es nieselt, Donner ist zu hören. Trotz der miesen Sicht marschiert Paolino voran, ohne einen Augenblick zu zögern. Den befestigten Weg haben wir längst verlassen. Es ist Paolinos Reich; hier kennt sich der Hirt aus. „Noch eine gute Stunde“, ruft er, „aber leider wird's jetzt steinig und steil.“ Nicht übertrieben, einen Teil muß man klettern.

Es dauert länger. Mitfühlend hält Paolino irgendwann inne, als ich wieder an engen Felsspalten hängenbleibe. „Machen wir Pause“, sagt er und holt Salami, Rotwein und ein mächtiges Stück Brot heraus. Von den versprochenen Geheimverstecken für entführte Geiseln, Anlaß unserer Bergpartie, ist noch nichts zu sehen.

Paolino mag gut 30 Jahre alt sein. Sein Stoppelbart und seine an manchen Stellen angegrauten Haare lassen ihn älter, seine helle Stimme läßt ihn eher jünger erscheinen. Seine „Rechnung mit der Justiz“, wie er das nennt, habe er „in jeder Hinsicht“ beglichen. Sieben Jahre Gefängnis wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Beteiligung an einer Entführung, illegalen Waffenbesitzes und Erpressung hat er abgesessen – „eigentlich waren es elf Jahre, aber ich habe Straferlaß gekriegt“.

Nach einer halbe Stunde sollten wir eigentlich weitermarschieren. Paolino lacht. „Nein, wir sind bereits mitten im Versteck.“ Nicht möglich: Hier ist doch alles weiträumig, ganz und gar nicht so eng und muffig, wie man sich das immer vorstellt. „Doch“, sagt Paolino und zeigt herum. Tatsächlich stehen wir inmitten steil aufragender Wände, über uns beugen sich an den Klippen dicht an dicht Bäume: Auch von oben ist die Stelle absolut uneinsehbar. Niemand kann ahnen, daß hinter dieser scheinbar dichten Felsen- und Geröllmauer ein Raum von sicher 60, 70 Quadratmetern liegt. „Auch Spürhunde kommen hier nicht rein“, sagt Paolino, „unsere Spezialisten haben draußen Chemikalien hingegossen, da hauen die wieder ab.“

Das „Appartement“, wie Paolino es nennt, hat sogar drei „Zimmer“: zwei kleine Naturhöhlen und eine weitere, offenbar vom Menschen behauen. Eine „Toilette“ liegt hinter Büschen, etwas tiefer, „so stinkt es nicht herein“.

„Trotzdem“, sagt Paolino, „war auch das hier nicht das Gelbe vom Ei.“ Denn: „Zwar ist es als Versteck absolut sicher, nicht aber der Zugang.“ Polizisten können mit Nachtsichtgeräten auch ohne Tageslicht herumschleichende Menschen erkennen. Deshalb bevorzugen die Banden auch Verstecke, die besser erreichbar sind.

Tatsächlich wurde das Versteck hier von der Polizei in den 80er Jahren entdeckt, weil man einem der Kuriere nachgespürt hatte. „Das Problem bei vielen Entführungen“, sagt Paolino, „ist ja, daß man das Versteck nicht nur haben, sondern auch wechseln können muß – notfalls sogar am hellen Tag.“ Carabinieri, Polizei, Militär durchkämmen manche Gegend wochenlang, und da muß dafür gesorgt sein, daß die Verbindung zum Aufenthaltsort der Geisel stets vorhanden ist. Im hiesigen Fall war es zwar noch gelungen, die Geisel in ein höher gelegenes Lager zu schleppen, aber drei der Entführer wurden gestellt, einer davon wurde erschossen.

Wie verhalten sich Geiseln in solchen Momenten? Fühlen sie, daß mögliche Befreier in ihrer Nähe sind, versuchen sie nicht zu schreien, sich loszumachen? Paolino wiegt den Kopf: „Ehrlich gesagt, direkt dabei war ich bei einer solchen Aktion selbst nie. Aber die Kameraden haben mir gesagt, daß man dem Mann oder der Frau die Maschinenpistole unter die Nase hält, dann klappt das schon.“ Er denkt einen Moment nach. „Aber die meisten Unfälle, also sagen wir mal, wenn die Geisel nicht überlebt: die passieren bei solcher Gelegenheit. Die regen sich in solchen Momenten auch wahnsinnig auf, und einen Arzt haben wir ja bei solchen Dingen nicht dabei.“

Paolino steht auf: „Gehen wir, draußen ist Besuch.“ Tatsächlich – kaum hundert Meter weiter bergauf stehen wir plötzlich vor einer Carabinieri-Streife. Während die Polizisten erschrecken, hat Paolino ein breites Grinsen auf. „Agli ordini, maresciallo!“ ruft er, und die Polizisten setzen die Maschinenpistole ab. „Na, Paolino“, brummt der Streifenführer, „wieder mal kundschaften? Laß dich bloß nicht erwischen!“ Paolino macht ein beleidigtes Gesicht. „Ich bin sauber, das wissen Sie doch. Ich zeige dem Mann hier nur die Umgebung. Der ist Deutscher und wahnsinnig in die Berge verliebt.“

Die Ausweise wollen die Carabinieri trotzdem sehen. Ich wundere mich, daß die Streife dem Versteck so nahe war, ohne uns zu bemerken, Paolino sie aber doch erfühlt hatte. „Das ist eben das Tolle“, sagt er, „sie sind immer im Nachteil, wir waren immer schneller als sie.“

Er zeigt mir noch weitere zwei Verstecke, weniger komfortable allerdings; eines ist nur ein tiefes Loch im Berg, etwa dreißig Meter Naturhöhle, dahinter, verborgen durch große Felsbrocken, weitergehauen und durch einen dünnen Kamin nach oben mit Luft versorgt. „Das war lange Zeit das sicherste Versteck hier in der Gegend“, sagt er.

Wie kommt es, daß sich manche Geiseln selbst befreien können? Paolino lacht: „Ich halte jede Wette, daß unter hundert Freigelassenen keine zwei sind, die aus irgendeinem Versehen und ohne Lösegeld wieder losgekommen sind.“ Alles nur von der Polizei gestreute Gerüchte. Die Bezahlung von Lösegeld ist in Italien strafbar, auch die Vermittlung einer Zahlung – bis zu fünf Jahren stehen darauf. Seit 1991 werden automatisch alle Guthaben und Güter der Familie eines Entführten beschlagnahmt, damit keine Zahlung erfolgen kann. Seither, so behaupten die Behörden, sei die Zahl der Entführungen um mehr als zwei Drittel zurückgegangen.

Aber auch darüber kann Paolino nur lachen: „Ja, die der gemeldeten Entführungen“, sagt er, „seither zögern die Angehörigen oft monatelang, den Fall anzuzeigen, und in vielen Fällen wird das denn auch erledigt, ohne daß die Polizei eingeschaltet wird.“ Tatsächlich verhindert offenbar auch die Beschlagnahme nicht, daß Lösegeld gezahlt wird. Anfang November kehrte die 28jährige Silvia Melis nach achtmonatiger Gefangenschaft auf Sardinien zurück – trotz der Beschlagnahme waren umgerechnet fast zweieinhalb Millionen Mark bezahlt worden: Freunde hatten ausgeholfen.

Paolino ist für mich ein Rätsel: ein offener, aufgeschlossener Mann, heiter und ungezwungen. Wie kann er mithelfen, wehrlose Menschen zu verschleppen, gewaltsam monatelang festzuhalten, Menschen, die ihm nichts getan haben? Alles nur wegen des großen Geldes?

„Großes Geld!“ Paolino lacht hart. „Sicher, die zahlen einen hohen Preis. Aber was meinst du denn, wieviel für unsereinen da bleibt?“ Er rechnet auf: „Also, um eine einigermaßen aussichtsreiche Entführung durchzuhalten, brauchst du mindestens 30 bis 40 Leute. Diejenigen, die den Besitz der Opfer ausspähen, dann diejenigen, die ihre Bewegungen beobachten, dann ein hochspezialisiertes Entführungskommando. Inzwischen müssen die Verstecke hergerichtet werden, bei einer gutorganisierten Entführung sind das mindestens sechs. Da müssen Wärter sein, rundherum auch Wachen, die den Anmarsch der Polizei melden. Dann die Leute, die die Verhandlungen fürs Lösegeld führen. Das alles dauert oft mehr als ein Jahr. Für einen wie mich bleibt da nicht einmal eine Million Lire im Monat.“ Und für diese tausend Mark lohnt es sich, Kopf und Kragen zu riskieren? Ist da einfache, ehrliche Arbeit nicht lohnender?

Paolino schüttelt den Kopf: „Das kann nur jemand sagen, der nicht hier aufgewachsen ist. Die meisten von uns können nur dort etwas abkriegen, wo sie in einer Gemeinschaft mitmachen, irgendeiner. Früher waren das die großen Viehherden, aber auch das ist längst passé. Die Landwirtschaft ist bei uns kaputt. Industrie gibt es nicht, allenfalls wer im Tourismus arbeitet, kann leben, aber das sind auch nicht viele. Und es gibt Druck: Wer sich der ,Einladung‘, bei einer Entführung mitzumachen, entzieht, kann gleich auswandern oder sein Testament schreiben. Da gibt es eben die großen Bosse, die das anordnen.“

Also verdienen manche doch ganz gut? Im Falle der Unternehmerstochter Silvia Melis hat sich einer der drei Vermittler umgerechnet an die 400.000 Mark von der Lösegeldsumme abgeschnitten. „Ja“, lacht Paolino grimmig, „natürlich; so mancher profitiert nicht schlecht. Aber das sind bei einer großen Entführung maximal zwei oder drei Leute. Der Rest ist miserabel bezahlt.“

Meine Frage hat er noch nicht beantwortet: Wie kann er es mit seinem Gewissen vereinbaren, Menschen mit solcher Gewalt zu behandeln, ja auch ihren Tod in Kauf zu nehmen? Paolino deutet hinauf zum Monte Antenna. „Hier im Aspromonte herrschen andere Gesetze als bei euch.“

Er dreht sich langsam um, beginnt mit dem Abstieg, redet mehr zu sich selbst. „Ja, warum macht man das? Ich weiß nicht. Natürlich könnte man sich entziehen. Aber wenn so etwas geplant wird, sieht man nicht nur das Geld. Man sieht auch die Leute, die es trifft: fast immer reiche, arrogante Pinkel, die einen Hirten wie mich nicht einmal grüßen würden. Denen was wegzunehmen ist mir nie als Sünde erschienen.“ Er sagt „Sünde“, nicht „Verbrechen“.

Und das soll alles sein? Er bleibt stehen, schaut mich wieder gerade an: „Immerhin: Ich bin ja ausgestiegen, wirklich.“ Dann schüttelt er den Kopf. „Aber wenn du mich jetzt fragst, warum, dann kann ich dir auch das nicht sagen.“