Sozusagen eine Femmage

■ Sie kam aus dem Urwald - und verschwand im Gestrüpp des mißglückten Musicals (20.15 Uhr, N3)

Von dem Projekt hat Horst Königstein während seines ganzen berufstätigen Lebens geträumt. Er hat keine Scheu zu erzählen, wie er schon zu Bremer Schulzeiten mit hochrotem Kopf ihre Konturen mit dem Bleistift auf Butterbrotpapier durchpauste – aus reiner Liebe und purer Obsession zugleich. Diejenige, die der Regisseur als Pubertierender so verehrte, ist Marion Michael. Damals, als Königstein noch jung war, war sie besser bekannt unter als „Liane, das Mädchen aus dem Urwald“.

Marion Michael war Ende der fünfziger Jahre – nach Hildegard Knefs scheuer Nacktszene in „Die Sünderin“ – die Figur, die den Bundesdeutschen versuchte, Nacktheit als natürlich nahezubringen. Besonders begehrt wurde sie von Proletenjungs – eine Figur des Trashs. Eine deutsche Brigitte Bardot sollte sie werden und wurde doch nur mit dem Etikett „Bundesnackedei“ versehen.

Königstein, seit 20 Jahren im öffentlich-rechtlichen Fernsehgewerbe Spezialist für die Filmstoffe, die wirklich von dieser Welt sind, dokumentarisch, szenisch, aus dem wirklichen Leben sozusagen, hat die Laufbahn der Marion Michael verfolgt: Autounfall nach den ersten Filmrollen, schwere Genesung, keine weitere Karriere beim Film, dann die Zeit im Berlin der Studentenbewegung, Kinderladenzeit, Alkohol noch und noch, schließlich 1979 die Flucht in die DDR, wo sie auch nicht weiter anknüpfen konnte an ihre Träume von Weltruhm und schönen Pelzen, dort aber heiratete und vom sozialistischen Alltag absorbiert wurde, ehe die Wende kam, die Königstein wiederum die Chance eröffnete, mit ihr in Ostberlin Kontakt aufzunehmen.

Die Realisierung des Films konnte beginnen – die Michael war beglückt, vom preisgekrönten Film- und Fernsehmacher sozusagen mit einer Femmage bedacht zu werden. Doch was dem Mann – der für solch selten aufgeklärte und intelligente Filme wie „Die Leute von Mümmelmannsberg“ (1976), „Reichshauptstadt privat“ (1987), „Der Tag, an dem Elvis nach Bremerhaven kam“ (1980), „Der Mann im schwarzen Mantel“ (1994) oder „Hamburger Gift“ (1992) verantwortlich zeichnet – sonst immer gelang, nämlich Form und Inhalt einleuchtend zu verschmelzen, das ist ihm in „Liane“ mißglückt. Und nicht einmal auf grandiose Weise, leider.

Vielleicht, weil es ein Musical sein mußte. Doch was die Sitten- und Alltagsgeschichte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren herzeigen soll, holpert. Die Wirtschaftswunderzeit wirkt offenbar nur in Produktionen aus jenen Tagen echt.

Dabei hat Königstein beim Casting nicht gegeizt. Er hat sogar Nadja Tiller (die laut Drehbuch eine „Diva“ gibt) engagiert, Udo Lindenberg und Matthias Freihof. Für eine der Rollen der Marion Michael heuerte man Luci van Org (Lucilectric) an – offenbar in dem Glauben, daß deren Stern länger als anderthalb Sommer leuchtet. Ein Irrtum, wie sich zeigt.

Das Prinzip, nach dem Königsteins Collagen und Dokumentationen bisher gebaut waren – immer eine Spur entfremdet, rasche, überraschende Schnitte, Überblendungen mit Originalmaterialien –, das geht bei „Liane“ schief. Zwar kommt ihm die Story der Marion Michael seinem Bedürfnis entgegen, die illegitime Trashkultur für den allgemeinen Bildungskanon akzeptabel zu machen: Vielleicht war er zu verstrickt in die eigene Geschichte, als daß er noch hätte darauf achten können, ein, ja, Schicksal eines deutschen Proletenmädchens mit Hang zum Höheren einem Publikum schmackhaft zu machen, das von all den Geschichtchen um den eigenen Bauchnabel nichts weiß.

Natürlich wäre zu loben, daß auch bei den Drehorten nicht gespart wurde. Das Hamburger Hotel Atlantic ist keine schlechte Adresse – aber vom schieren Luxus, den dieser Bau abstrahlt und dem doch in den Fuffzigern jedes gute Mädchen nahekommen wollte, davon ist nichts zu spüren. Das Artifizielle, das Königsteins Filme stets nutzten, um mittels Verfremdung zeitgeschichtliche Ereignisse empfindbar zu machen, wirkt bei „Liane“ nicht. Ein Musical muß eben entschieden sein, entschieden fiktiv oder entschieden realistisch – „Liane“ ist beides nicht und daher nichts.

Davon abgesehen, daß die Musik von Paul Vincent Gunia so hitunverdächtig ist wie kaum ein Melodienreigen in den letzten 20 Jahren: Der Anspruch war hoch, der Quotenfall wird tief sein. In diesem Fall darf das als Maßstab angeführt werden – denn dazu war der Stoff viel zu filmreif.

Jan Feddersen