Der Held, was er verbricht

Im antifaschistischen Märchenland: Das Altenburger Lindenau-Museum zeigt die Ausstellung „Das Herakles-Konzept“ des Malers und Filmemachers Lutz Dammbeck. Von einem, der auszog, in Geschichte zu wühlen  ■ Von André Meier

Wenn man der Legende glauben darf, begann es irgendwann in den Fünfzigern. Der kleine Lutz steigt mit seinen Freunden auf den Scherbelberg. Eine aus Weltkriegstrümmern errichtete Anhöhe im Süden von Leipzig. Nicht weit von der Rennbahn entfernt, auf der der Galoppertrainer Walter Dammbeck die ihm anvertrauten Pferde ihre Runden drehen läßt. Lutz ist sein Sohn, und wenn er nicht bei ihm und den Pferden ist, stöbert er auf dem Scherbelberg herum. „Bei unseren Spielen fanden wir auch Spuren von Herakles. Von den dort unter Trümmerschutt und Erde eilig verscharrten, von Gras und Ginster überwucherten Relikten ging ein unbestimmter Sog aus, der mich anzog und abstieß zugleich. Diese Fundstücke gehörten für mich – wie das Schweigen der Eltern über Herakles – in ein imaginäres verbotenes Zimmer, das zu betreten tabu schien: die Höhle des Herakles. Wer war diese Figur?“

Gut 30 Jahre später findet Dammbeck Antwort in Heiner Müllers „Herakles oder die Hydra“. Wir schreiben das Jahr 1982, und Müllers Herakles, ein von Selbstzweifeln zerfressener Antiheld, läßt alle Hoffnung fahren. In Polen regiert das Militär, und Tagesbesucher aus Berlin (West) dürfen ab sofort ihren Aufenthalt in Berlin (Hauptstadt) bis zwei Uhr ausdehnen. Lutz Dammbeck, der 1972 an der Hochschule für Graphik und Buchkunst mit einem Trickfilmkonzept und einer „Pressefest-Komplexgestaltung“ das Diplom erhielt, bleibt in Leipzig und schiebt seine zweijährige Tochter Sophie durch den Auenwald. Dort stößt er auf eine Gedenktafel, die an die Mitglieder einer antifaschistischen Widerstandsgruppe erinnert, die hier in Ruderbooten illegale Treffs abgehalten und konspiratives Material ausgestauscht haben soll.

Dammbeck will es genauer wissen und klopft den antifaschistischen DDR-Gründungsmythos auf seine historische Substanz hin ab. Er klopft einmal, er klopft zweimal, dann ein drittes Mal und bekommt Hausverbot. Das Archiv des antifaschistischen Widerstands der Leipziger VVN-Sektion ist leer.

Vom Wühlen in Geschichte

Was nun beginnt, ist Arbeit, ist Wühlen in Geschichte. Während Dammbecks westdeutsche Generationsgefährten in ihren elterlichen Fotoalben immer wieder auf im russischen Schnee steckende Soldatenstiefel stießen und schon in den Sechzigern damit begannen, alle väterlichen Frontschweinerinnerungen politisch korrekt mit Verweis auf Auschwitz zu quittieren, fiel im Osten diese Art innerfamiliäre Vergangenheitsbewältigung aus. Zum einen, weil, aus Scham oder Angst herausgerissen, in den Alben die entsprechenden Fotos fehlten. Zum anderen, weil sich hierzulande Söhne und Töchter selbst von kleinauf in Anpassung übten und jeder moralische Rigorismus spätestens mit dem Durchlaufen und -leiden von NVA-Kaserne oder Zivilverteidigungslager so gut wie abgeschliffen war. Angesichts dieses Kontinuums wären Zweifel an der Integrität der Erzeuger auf den Erzeugten selbst zurückgefallen.

Müller und das eigensinnige Kind

Der kommunistische Widerstand ist durch Tausende Straßen-, Schul-, Kasernennamen und Gedenkrituale im kollektiven DDR- Gedächtnis zum reichsdeutschen Massenphänomen aufgebläht. Er bietet den Schutzschild, hinter dem das väterliche Schweigen ebenso gedeihen kann wie die Bereitschaft der Kinder, sich im Namen eines vermeintlich besseren Deutschland mehr oder weniger bereitwillig kujonieren zu lassen.

Dammbeck erkennt diese fatalen Zusammenhänge und will sich selbst „ein Bild“ machen, Geschichte nicht mehr nur als Fiktion akzeptieren. Er will aus „Fotos, Fundstücken, Text- und Musikfetzen, Dokumenten und Ahnungen einen Entwurf wagen, dessen Leerstellen die eigene Erfahrung besetzt“. Wichtigstes Ausgangsmaterial ist neben Müllers Text das Märchen vom „Eigensinnigen Kind“, das sich noch im Tod Gott widersetzt und trotzig sein Händchen aus dem Grabe streckt. So lange, bis schließlich die Mutter, mit einer Rute schlagend, den kindlichen Widerstand in die Versenkung zwingt. Derart metaphorisch eingekeilt, hetzt Dammbecks Herakles, immer wieder zwischen Widerstand und Anpassung taumelnd, als deutsches Vaterkonstrukt durch die kontaminierte Geschichte. Dammbeck plant, die Story in den Babelsberger Studios zu verfilmen; die DEFA, bei der er 1976 mit einem Animationsfilm debütierte, lehnt das Projekt ab.

Der Filmemacher gibt nicht auf und entschließt sich, sein „Herakles-Konzept“ als Performance – Dammbeck nennt es Mediencollage – auf die Bühne zu bringen. Dort kämpft nun die Tänzerin Fine Kwiatkowsky als Verkörperung des eigensinnigen Kindes gegen mit Breker-Zitaten geschmückte Pappmachéhindernisse an. Parallel dazu versucht Dammbeck, auf großen Tafeln den Vorgang in Wortformeln zu fassen.

Das Publikum ist irritiert. Auch weil nur die wenigsten das ×uvre des NS-Bildhauers Arno Breker kennen. Seine Heroen sind für sie nicht Träger des totalitären Erziehungs- und Zwangsprinzips, sondern antike Idealgestalten und positiv besetzt. Eine Reaktion, die, so Dammbeck, eine unterschwellige Sehnsucht nach ganzheitlichen Welterlösungsmustern offenbart.

Bedrohlich zwischen bleichen Göttern

1986 verläßt Dammbeck die DDR. Er geht nach Hamburg, arbeitet wieder als Filmemacher und setzt die Arbeit am Herakles-Konzept fort. Großformatige Collagen entstehen, in denen sich, von dicken Nähten zusammengehalten, Fragmente aus privaten Fotoalben, Zeitungen und Breker-Katalogen zu neuen Heldenporträts fügen. Ende der achtziger Jahre beginnt Dammbeck seine Montagen mit Hilfe des Fahndungscomputers des Düsseldorfer Landeskriminalamtes zu perfektionieren.

Wenig später werden diese in Leuchtkästen präsentierten Arbeiten auch in bedrückende Installationen integriert. Die pseudowissenschaftliche Aura, die diese Werke umgibt, bietet jede Menge Platz für diverse und nicht an Zeit und Raum gebundene Assoziationen. Vom nationalsozialistischen Rassenvernichtungs- und Euthanasieprogramm bis zu den gentechnischen Experimenten unserer Tage. Die Herakles-Maschine scheint nicht stillstehen zu wollen. Der Bedarf an Helden ist ungebrochen.

Dammbecks Notizen, Dokumente, Zeichnungen, Bilder, Collagen, Installationen und Filme sind derzeit im Lindenau-Museum in Altenburg ausgestellt. Besser hätte es der Künstler nicht treffen können, denn hier bekam er die Möglichkeit, seine Arbeiten direkt in die vom Herzog von Sachsen- Altenburg im vorigen Jahrhundert zusammengetragene Gipsabguß- Sammlung zu integrieren. Und so steht sein vielgesichtiger Herakles nun bedrohlich vital zwischen lauter bleichen Göttern.

Lutz Dammbeck: „Das Herakles- Konzept“. Bis 18.1. Lindenau-Museum, Altenburg; 29.1.–8.3. Städtische Galerie für Gegenwartskunst, Rähnikgasse, Dresden; 22.3.–26.4. Kunstverein Heidelberg