Kultur macht nur Kosten

In Deutschland gibt es so viele Opernhäuser wie in der restlichen Welt. Warum man dennoch nicht auf sie verzichten kann. Überlegungen zur Kultur in Zeiten der Globalisierung und zum kulturellen Artenschutz  ■ Von Micha Brumlik

Daß es in Deutschland am Ende des Jahrtausends mit Kunst und Kultur im argen liegt, ist eine Meinung, die in letzter Zeit des öfteren zu hören ist und wohl auch im wesentlichen zutrifft. Daß das wiedervereinigte Deutschland, was die Bühnenkunst angeht, weltweit einmalig dasteht, ist gleichwohl nicht zu bestreiten. Hierzulande werden etwa genauso viele Opernhäuser unterhalten wie in der ganzen restlichen Welt – von den USA bis nach Polen, von Finnland bis Argentinien. Während in den USA, einem Land mit dreimal soviel Einwohnern wie der Bundesrepublik Deutschland – von Los Angeles bis New York, nimmt man die Collegebühnen aus –, gerade 15, nicht immer regelmäßig bespielte Opernhäuser in Betrieb sind, findet sich allein in einem Umkreis von 90 Bahnminuten von Frankfurt am Main aus schon eine Anzahl von zehn Häusern: In Darmstadt und Gießen, in Kassel und Mainz, von Mannheim, Stuttgart und Wiesbaden bis nach Würzburg werden die „Entführung aus dem Serail“, der „Fidelio“, aber auch „Jenufa“, „Salome“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ gegeben. Deutschland stellt damit unter allen Staaten der Erde ein Kuriosum dar, präsentiert sich hier – einmal im guten – als Repräsentantin eines politischen Sonderweges, der in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren immer heftiger bestritten wurde.

Vor 80 Jahren, am Ende des Ersten Weltkriegs, hatte Thomas Mann in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ die atmosphärische Konstellation von Romantik, Bürgerlichkeit, Pessimismus und Humor, von Musik und Nationalismus als seine geistige Mitte postuliert. Die auf dieser Konstellation beruhende Infrastruktur bürgerlicher Kultur in Deutschland hat ihre Kodifikation im „Kulturstaat“ der Republik von Weimar ebenso wie alle Versuche, sie von links her umzukrempeln und dem Proletariat zu öffnen, überstanden, sie hat sich während des Nationalsozialismus unauffällig und widerstandslos dem System eingliedern lassen sowie die Vertreibung und Ermordung jüdischer Künstler ebenso feige hingenommen, wie sie auch noch die widerborstigsten Stücke bürgerlichen Freiheitsstrebens, etwa Beethovens „Fidelio“, dem Mitläufertum ausgesetzt hat. Sie fand in der ehemaligen DDR ihre Nischen und hat sich nicht zuletzt 1968 im Westen, gerade wegen der Debatten um ihre Abschaffung, um Mitbestimmung, Regisseurstheater und Kulturrevolution regeneriert. Erst heute, am Ausgang von mehr als 200 Jahren bürgerlicher Bühnenkultur, auf der Schwelle zu einem liberalen, aber nicht mehr demokratischen, transnationalen Westeuropa, zu einem Zeitpunkt, da einer der wenigen Aktivposten der an Rühmlichem nicht eben reichen jüngeren deutschen Geschichte ins europäische Erbe übergehen könnte, scheint das Ende nahe.

Kulturstandorte mit geringem Mehrwert

Dieser Befund gibt Anlaß, einen bisher zuwenig beachteten Aspekt der Globalisierungsdebatte aufzunehmen und das Augenmerk auf das zu richten, was bisher nur Denkmalschützer interessierte. Die Aufnahme von Gebäuden oder Gebäudekomplexen in das von der Unesco verwaltete „Weltkulturerbe“, das seinen äußeren Ausweis in einer weißblauen Raute findet, indiziert möglichen Kriegsgegnern auf perverse Weise, die Baulichkeiten – im Unterschied zu den Menschen, die sich darin befinden könnten – auf jeden Fall zu verschonen. Im Falschen ist indes das Richtige angelegt. Nach dieser Praxis besteht der Globus keineswegs nur aus Wirtschafts-, sondern auch aus Kulturstandorten, die – abgesehen von etwas Tourismus – keinen unmittelbaren ökonomischen Nutzen nach sich ziehen, sondern sogar Kosten verursachen können. Aber ähnlich wie in öffentlichen Haushalten erhält das Siegel des Beständigen und Schützenswerten, um dessen willen man sich sogar verschulden darf, nur der dreidimensionale, aus Stein, Beton, Glas oder Stahl bestehende Gegenstand – obwohl doch die Architektur, die Baukunst wahrlich nur eine, zudem noch die am ehesten dem Alltag nahe Kunstgattung darstellt. Kunst und Kultur vor der Zerstörung durch Krieg zu schützen, ist ein sinnvolles und unanfechtbares Unterfangen – doch steht das, was hier für einen unwahrscheinlichen Fall verschont werden soll, in keinem Verhältnis zu dem, was durch den Selbstlauf der Ökonomie und die mißglückten Maßnahmen der Politik tagtäglich nur deshalb zerstört wird, weil es kein dreidimensionaler, nutzbarer Gegenstand ist!

Die Bühnen-, zumal die Opernkunst ist hierfür nur das deutlichste Beispiel. Eine aufmerksame Betrachtung der Stellenpläne und Besetzungszettel deutscher Opernhäuser weist einen sogar für diese multikulturelle Immigrationsgesellschaft besonders hohen Anteil an Mitarbeitern ohne deutschen Paß auf. Ohne das dichtgegliederte und tiefgestaffelte deutsche Bühnenwesen würden Ausbildungsgänge und Karrieren von Sängerinnen und Musikern – vom einfachen Chormitglied bis zum Heldentenor – aus Japan, Korea, den USA, Skandinavien, Israel und Italien steckenbleiben und versanden, würde die musikalische Kultur in den Herkunftsländern dieser speziellen Arbeitsimmigranten auf Dauer stagnieren oder – wie allem zum Trotz in Italien – sogar zurückgehen. Man könnte sogar behaupten, daß das heutige Deutschland ebenso das Land der Oper ist, wie Kalifornien das Land des populären Films, Lateinamerika der Kontinent des magisch-realistischen Romans oder Jamaika das Land der Reggaemusik ist. Dabei steht außer Frage, daß Frankreich und Italien in jeder Hinsicht bedeutende Filmländer sind, daß gerade in Zentralafrika experimentelle und sozialkritische Filme von hohem Rang entstehen, daß auch in Texas weitertreibend Operninnovationen auf die Bühne gebracht werden und London der Ort ist, wo hybrider Ethnorock floriert. Worauf es ankommt, ist lediglich, daß es – bisher noch – aller Diversität zum Trotz in Kunst und Kultur historisch entstandene Produktionsbedingungen gibt, die, sofern man überhaupt weitere künstlerische Produktion will – kurzfristig nicht zu ersetzen sind.

Braucht die globalisierte Weltgesellschaft Kunst – und wenn ja, warum? Die Klimaschutzkonferenz in Kioto unterstreicht – unabhängig von ihren Erfolgen oder Mißerfolgen – ein weiteres Mal, daß die natürlichen Ressourcen knapp und – nach Maßgabe unseres heutigen Wissens – nicht regenerierbar sind. Das scheint in dieser Absolutheit für die symbolische Umwelt der Menschen nicht zu gelten. Sogar wenn hier und da ein Verlag pleite macht, ein Theater geschlossen wird oder ein Schriftsteller aufhört, kreativ zu sein, scheint doch die Wahrscheinlichkeit groß, daß andere nachfolgen werden. Warum also überhaupt Kulturpolitik als Kunstförderung? Sind Kunst und Kultur nicht – im Unterschied zu den natürlichen oder auch den finanziellen Ressourcen – Geschenke an Genius und Kreativität? Dem ist offensichtlich nicht so – auch das kulturelle Kapital einer Gesellschaft bedarf der nicht nur finanziellen Investitionen, der langfristigen Pflege und Ausbildung vorhandener Fähigkeiten, vor allem aber der sozialen Räume, wie Bühnen, Museen und öffentliche Plätze, um seine Wirkung entfalten zu können.

Investitionen mit kulturellem Kapital

Diese Einsicht, die in neoliberalen Marktgesellschaften verlorenzugehen droht und historisch ein Kind des Absolutismus ist, hat erhebliche Konsequenzen. Sie zwingt nämlich zu dem weiteren Schritt, das Deutungs- und Kreativitätspotential der Kunst und ihrer Erfahrung als ein ebenso knappes, wertvolles Gut anzusehen wie die natürlichen Lebensgrundlagen. Alleine die Kunst (und vielleicht noch die Wissenschaft) als Ort des Neuen so gut wie als Ausdruck des kollektiven Unbewußten vermag es, Gesellschaften das zu geben, was sie doch allgemeiner Meinung nach so nötig brauchen wie nichts anderes: Utopien, Zukunftsorientierungen, Selbstaufklärung – Perspektiven.

Damit kommen auf die klein gewordene Welt, die nicht nur ihre natürlichen, sondern auch ihre künstlerischen Grundlagen schützen muß, neue Aufgaben zu. Mindestens so nötig wie Umweltschutzabkommen wären demnach Abkommen zum Schutze der Kunst, Verträge und Politiken zum Schutz und zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Kunst. In Form von Lippenbekenntnissen dürften dem ebenso viele zustimmen, wie sie im gleichen Atemzug andere Entscheidungen treffen. Akzeptiert man jedoch Einsicht in die Knappheit der symbolisch-künstlerischen Ressourcen, so hat Deutschland in Form einer politischen Selbstbindung tatsächlich eine globale Verantwortung – mindestens für jenes eigentümlich hybride Kunstwerk der Oper, für jene unwirkliche Inszenierung, in der extremste Künstlichkeit, mindestens zwei Sprachen: die internationale Sprache der Musik und die jeweilige Sprache der Libretti sowie Architektur und Malerei im besten Fall zu einem Erfahrungsraum zusammenwachsen, der die reale Realität genau deshalb als die, die sie ist, sichtbar werden und damit übersteigen läßt.

Die globalisierte Welt ist ebenso grenzenlos wie begrenzt – die Freude über die Ermäßigung politischer Zugangshemmnisse wird durch die Einsicht in ihre Begrenztheit und Endlichkeit ernüchtert. In der Kunst stellt sich ihre begrenzte Vielfalt dar: Wenn Kunst und Kultur eine Eigenschaft haben, dann die, bastardisiert, unrein, vielfältig und beziehungsreich zu sein. Angemaßte Reinheit und Klassizität, vermeintliche nationale und ethnische Typik haben sich noch stets als Ergebnis höchst unreiner Vermischungen, Übernahmen, Kopien und Plagiate erwiesen. Gerade um dieser einzig weitertreibenden Unreinheit willen lohnt es aber, einige Strukturen protektionistisch zu verteidigen. In einigen, gewiß nicht in allen Fällen sind es nämlich national gewachsene Traditionen, die erst die langfristige und nachhaltige Ausbildung einer hybriden, porösen, wahrlich kosmopolitischen Kultur ermöglichen: zum Beispiel die bundesdeutschen Stadttheater und Landesbühnen mit ihren Sparten.

Zu behaupten, daß die weltweite Zukunft der Oper damit in einem sehr wesentlichen Sinn von der Kunstliebe und Urteilskraft vor allem von Kommunalpolitikern, aber auch von bundesdeutschen Landesparlamenten abhängt, mag lächerlich klingen – nimmt man die Theorie der Globalisierung ernst, ist dies jedoch eine unausweichliche Konsequenz.

Von Micha Brumlik liegt vor: „Der Vorhang fällt, Kultur in Zeiten leerer Kassen“. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1997, 142 Seiten, 12 DM