■ Die Proteste gehen weiter. Eine Zwischenbilanz des Unistreiks
: Bewußtsein beginnt im Kopf

Jeder Protest in diesem Land muß, so scheint's, den Vergleich mit der 68er Bewegung aushalten: Nicht betretene Wiesen werden da zum Maßstab erhoben. Selten jedoch macht sich jemand die Mühe, das Bild des verklärten Vorgängerprotestes jenseits von Mythenbildung zurechtzurücken. Wie universell war diese antiautoritäre Bewegung eigentlich, die die „Weltrevolution“ und nicht, wie es heute gerne heißt, die eigene materielle Zukunft im Auge hatte?

Wer die Proteste der letzten Wochen mitverfolgt hat, dem dürfte aufgefallen sein, daß hier Studierende ihr begrenztes universitäres Umfeld verlassen haben. Die Studentenproteste wollen nicht allein auf den Geldmangel der Universitäten aufmerksam machen. Die Universität trägt trotz bequemer Elfenbeinturm- Mentalität Verantwortung und beansprucht Relevanz. Kein Studierender kann heute noch an der Mär festhalten, er gehe allein für die eigenen Interessen und den gutbezahlten Posten auf die Straße, wenn gleichzeitig die Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft zunehmend fragwürdig wird.

Statt also die Vergleiche mit denen zu ziehen, die heute noch an ihrem Selbstbild feilen, würde es sich lohnen, sachlich darüber zu diskutieren, wie die Qualität von Lehre und Forschung verbessert werden kann. Zur Qualität von Lehre und Forschung gehört neben angemessener finanzieller Ausstattung und ausreichendem Personal auch demokratische Mitbestimmung in den Gremien, die die Studierenden endlich aus der überkommenen Rolle der minderbemittelten Konsumenten befreit. Ein rein effizientes und „output-orientiertes“ Management gemäß der Novelle des Hochschulrahmengesetzes würde dagegen zur Folge haben, daß die Macht wiederum in den Händen der Professoren konzentriert sein wird.

Der Unterschied zwischen 68 und heute besteht unter anderem darin, daß die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit mittlerweile zur Realität eines jeden gehört, damals spielte sie keine Rolle. Wem hätte es da schwerfallen können, sich in Träumen und Utopien über die Veränderungswürdigkeit der Welt zu ergehen? Heute geht es um die Veränderungswürdigkeit einer Universität, die dringend der Reformen bedarf, wenn sie noch in die Zukunft des Arbeitsmarktes hinübergerettet werden will. Dabei wird auch über die Abschaffung des Beamtentums an den Hochschulen nachgedacht. Das ist gut so, denn es zeigt, daß ein Teil des Problems in den verkrusteten institutionellen Strukturen liegt.

Wie diese Reformen aussehen könnten, wird derzeit an den Hochschulen diskutiert. Dabei geht es längst nicht mehr um eine Rundumablehnung aller bisherigen Vorschläge und um undifferenzierte Schlagworte wie „Bildung für alle“. Diese Diskussionen müssen jedoch weiter nach außen getragen werden, um die Politiker an ihre Verantwortung zu erinnern und diese auch einzufordern. Wir dürfen dabei allerdings nicht der Illusion erliegen, die Verantwortung von Politikern in unserem Fall sei endlich einmal etwas, an das man mit Hoffnung auf Erfolg appellieren könne.

Der Erfolg unserer Proteste liegt schon jetzt darin, daß wir wieder Massen von Menschen auf die Straße und zum Nachdenken bewegen konnten. Die Umarmungstaktik der Politiker würde jedoch auf verhängnisvolle Weise aufgehen, wenn wir jetzt aufhören zu protestieren. Es gilt nicht nur, unseren Forderungen Kontur zu geben, sondern auch, eine entpolitisierte Öffentlichkeit aufzurütteln, die sich immer weniger zutraut, Verantwortliche beim Namen zu nennen. 30 Jahre nach den 68ern und nach 15 Jahren Kohl-Regierung ist es an der Zeit, verantwortungsbewußte Politik einzufordern, die ihren Namen verdient. Es stimmt: Wir haben noch nicht die „Weltrevolution“ im Auge, wir wissen aber, daß der Euphemismus „Globalisierung“ aus dem Wörterbuch der Ersten Welt stammt. Bewußtsein beginnt eben im Kopf und geht dann auf die Straße. Außerdem beginnt es im kleinen, wie im übrigen auch die Revolution. Devrim Karahasan

Studentin der Geschichte, Politik und Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum