Staatsbürgerschaft durchgedrückt

■ UN-Vermittler setzt Dekret in Bosnien in Kraft. Muslime protestieren

Wien (taz) – Erstmals verfügten die internationalen Schutzmächte für Bosnien eine Entscheidung per Dekret: Seit Dienstag gilt in Bosnien ein neues Staatsbürgerschaftsrecht. Damit machte der UNO-Sonderbeauftragte Carlos Westendorp von seiner neuen Vollmacht Gebrauch, eine Lösung zu erzwingen, wenn sich Muslime, Kroaten und Serben trotz internationaler Vermittlung zu keiner Einigung durchringen können.

Vor allem muslimische Abgeordnete liefen gegen die Gesetzesvorlage Sturm, da das Staatsbürgerschaftsdekret Kroaten und Serben auch die Möglichkeit einräumt, die Staatsbürgerschaft ihrer Mutterrepubliken Kroatien und Serbien anzunehmen – ohne zwischenstaatliche Konsultierung. Kritiker in Sarajevo sehen in der Westendorp-Entscheidung einen weiteren Schritt zur Unterhöhlung des Friedensvertrages von Dayton und ein Zugeständnis an alle Nationalisten, die kein Hehl aus ihrer Absicht machen, Bosnien als souveränen Staat langfristig zu zerschlagen. Der Dayton-Vertrag erlaubt in Annex 4 Absatz 1 Artikel 7d eine doppelte Staatsbürgerschaft für bosnische Staatsangehörige nur dann, wenn in dieser Frage mit dem betroffenen Land eine zwischenstaatliche Vereinbarung abgeschlossen wurde. Im Falle Kroatiens und Serbiens gibt es diesbezüglich keine Abkommen mit Bosnien.

Die Argumentation von Westendorp, das jetzt verabschiedete Dekret sei nur temporär und müsse durch ein Gesetz des bosnischen Parlaments ersetzt werden, tröstet die Muslime wenig. Sie argumentieren, von nun an würden Kroaten und Serben eher verstärkt auf ihrem Recht beharren, sich erstmals als Kroaten und Serben zu deklarieren und nur nebenbei als Bosnier. Dadurch werde die Idee eines Dreivölkerstaates Bosnien völlig untergraben. Ein Verfassungsgericht, das klären könnte, ob das Staatsbürgerschaftsdekret durch die bosnische Verfassung und den Dayton-Vertrag gedeckt ist, gibt es nicht. Und ob Westendorp eine solche Institution per Dekret zum Leben erwecken wird, ist völlig offen. Karl Gersuny