Berichte aus dem Inneren des Illusionspalastes

■ Fluchtpunkt Psychose: „Kind ohne Meinung“ – zur Autobiographie von Peter Mannsdorf

„Kuckucksnest“ und „Rosengarten“ – das sind die landläufigen Synonyme für Psychiatrieliteratur. Dabei wird viel geschrieben in der Psychiatrie: Irgendwie muß das innere Chaos ja geordnet werden. Patientenzeitungen verstehen sich als Sprachrohr, hin und wieder veröffentlicht ein mutiger Lektor sogar sogenannte Betroffenentexte.

Peter Mannsdorf schreibt auch. Doch wie er schreibt, ist neu und ungewöhnlich. Das „ehrenwerte Mitglied der Berliner Psychoszene“ (Selbsteinschätzung) kann man getrost als eine Ausnahmeerscheinung bezeichnen. Mannsdorf schuf eine autobiographische Roman-Trilogie, die „im Rückwärtsgang“ ein (un)-gewöhnliches Leben zwischen Liebe und Selbstbetrug, zwischen depressiven Talfahrten und manischen Revolutions- und Befreiungsideen schildert.

Sein pfiffig-erfrischendes Erstlingswerk „Das verrückte Wohnen“ nannte Manndorf einen „Bericht aus dem Inneren eines Illusionspalastes“: Gerd kämpft mit seinen Depressionen und schreibt Gedichte. Hans und James sind abwechselnd auf dem Jesustrip, Verena hält sich für Martin Luther und Jörg will die IQs gerecht verteilen. In diesem Kreis psychisch kranker Menschen in einem Berliner Übergangswohnheim gerät Peter Fallistel, das Alter ego des Autors, mit seinen eigenen Macken.

Mannsdorfs Ich-Erzähler leidet, liebt und lebt in den Tag hinein. Er inszeniert, präsentiert und kommentiert – nie voyeuristisch oder anklagend, sondern stets selbstironisch und mit einem schelmischen Humor. Die Sprache ist ungezwungen, die zahlreichen Dialoge wirken wie gesprochen, die Protagonisten wachsen ans Herz. Irr- Witz aus einer bisher unbekannten Perspektive, immer unter dem Motto: „Die Esoteriker sind die Theoretiker, und wir Psychotiker sind die Praktiker.“

Das Leben vor dem Übergangswohnheim erkundet Mannsdorfs zweiter „psychotischer Bildungsroman“: „Von der Zukunft umzingelt“. Peter Fallistel flieht vor den Ansprüchen seiner Eltern und der anonymen Berliner Universität nach Frankreich und verliebt sich in die „Königin der Vorstadt“. Claudine steckt Peter mit ihrer Lebenslust an, sie wird seine Göttin. Doch der Druck eskaliert: Hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Depression wird der Strudel seiner Gefühle immer schneller, er dreht ab. Nun konfrontiert Mannsdorf uns mit den inneren Stimmen seines Helden. Wären sie nicht typografisch abgesetzt, das Unterscheiden von Wirklichkeit und Gedankenlabyrinth fiele schwer. Was ist große Liebe, was wahnsinnige Eifersucht und was psychotische Realitätsflucht?

Wer jetzt auch wissen will, wie das alles begann, wird neugierig auf das „Kind ohne Meinung“, dem aktuell erschienenen retrospektiven Abschluß der Trilogie. Mannsdorf spielt darin mit den Perspektiven und verschiedenen Zeitschienen. So läßt er den kleinen Peter träumen: „Ich stelle mir vor, ich mache mich unsichtbar und krabbele in meine eigene Zukunft. Ganz weit, bis ich zwanzig oder dreißig Jahre alt bin. Gerne würde ich nämlich wissen, ob sich meine Eltern später, wenn ich älter bin, auch noch streiten.“ So trifft der kleine auf den großen Peter, der den Eltern sein Roman-Manuskript vorliest, damit sie gemeinsam besser verstehen, welche Einflüsse den Weg in die Psychose begünstigt haben könnten: „Wenn ich mir die Fotos anschaue, weiß ich nicht, wann, wie und warum das passiert sein soll. Alles normal, stinknormal.“ Was hätte anders laufen können und müssen?

Peter Mannsdorfs Verdienst ist es, die Sparte der Psychiatrieliteratur aus der „Innensicht“ erweitert zu haben, nicht spröde-akademisch oder hölzern-mitleidheischend, sondern liebevoll-lebendig und äußerst unterhaltsam. Und wie geht es dem „Originalautor“ Peter Mannsdorf heute? „Klar, ich bin während des Schreibprozesses wieder krank geworden, aber ich glaube, daß das Schreiben mir hilft und mich insgesamt stabilisiert. Ich hoffe durch das Schreiben die Krankheit einmal endgültig zu überwinden.“ Der „große Peter“ erklärt dem „Kind ohne Meinung“ diesen Optimusmus mit den Worten: „Das Gute setzt sich durch, sagt der Hintern zur Hose. Und das hoffe ich auch.“ Hartwig Hansen

Peter Mannsdorf: „Kind ohne Meinung“, 191 S., 24,80 DM; alle drei Teile der Autobiographie bei Edition Balance im Psychiatrie- Verlag Bonn