Kampfbegriff

■ „Reformstau“ wurde zum Wort des Jahres gewählt

Der politische Streit ist immmer auch Streit um Worte. Welcher Begriff setzt sich durch, und durch welche Inhalte wird er „besetzt“? Das „Establishment“, in den 60er Jahren weitverbreiteter Kampfbegriff, ist wie vom Erdboden verschluckt. Dafür hat in den späten 90ern der „Reformstau“ seinen Siegeszug angetreten. Gestern hat ihn die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres erklärt. Die Gesellschaft versichert zwar, mit der Wahl sei keine Bewertung verbunden, aber das stimmt nicht. Denn der Begriff transportiert keine generelle Kritik, etwa am angeblichen Immobilismus der Deutschen, sondern funktioniert als Waffe in der Propagandaschlacht der Rechten.

Sein erster Teil, die „Reform“, hat gänzlich das Bedeutungsfeld eingebüßt, innerhalb dessen er während der letzten 200 Jahre verwandt wurde. „Politik der Reformen“ bezeichnete als Gegenbegriff zur umstürzenden Revolution stets den friedlichen, schrittweisen Um- und Neubau der Institutionen, hin zu mehr Partizipation und Gerechtigkeit. In unserem Jahrhundert war „Reform“ Zwillingsbegriff des „Sozialstaats“. Dieser sprachlich- sachlichen Affinität folgten selbst die konservativen Eliten der deutschen Nachkriegszeit, wie der Begriff der „Rentenreform“ von 1957 erhellt. Heute versammeln sich unter dem Titel „Reform“ alle möglichen Projekte, deren gemeinsamer Nenner ein diffuses Mißvergnügen am Sozialstaat ist. Dabei nutzen die Ingenieure des Sozialabbaus das Fortschrittspathos, das dem Begriff der „Reform“ immer noch anhaftet, deuten aber seine Substanz um.

Ingeniös ist die Verbindung von „Reform“ und „Stau“. Damit wird die Alltagserfahrung des „Nichts geht mehr“ mit der Idee verkoppelt, ein Bündel quasi neutraler technischer Maßnahmen, eben die „Reform“, werde dafür sorgen, daß der Stau sich auflöst und der Verkehr wieder ungehindert dahinfließt. Die sich der Stauauflösung entgegenstellen, blockieren den freien Verkehrsfluß. Deshalb gilt es, gegen die Reformblockade Front zu machen. Die Blockierer erweisen sich als Feinde des Neuen. Sie sind die eigentlichen Konservativen. Auch hier eine geglückte Transformation der Begriffe.

In Wirklichkeit sind durchaus Reformen in vollem Gang, wenngleich sie der Gesetzesform entbehren. Steuerflucht und Tarifflucht sind die heimlichen Reformen von heute. Diese Fliehenden hält kein Stau auf. Christian Semler