Mit Schokolade an die Macht

Warum Gott Maria, eine Frau aus Berlin (Hauptstadt der DDR), mit Mon Chérie verführte  ■ Von Frank Rothe

Kürzlich sandte Gott einen Engel zu einer jungen Frau nach Berlin, DDR. Das junge Wesen hieß Maria und wohnte in einem dreizehnstöckigen Hochhaus am Tierpark. Maria liebte Tiere, doch noch mehr liebte sie ihren Verlobten Joseph. Er war der Nachfahre einer ungarischen Winzerfamilie, deren Weinstöcke nach Gründung der Volksrepublik auf ein Zehntel minimiert wurden. Seitdem wurde dort gepanscht wie nirgends sonst auf der Welt. Das waren die Eckdaten, die der Engel bekommen hatte. Es war schwer, Informationen aus dem östlichen Teil der Welt zu erhalten.

Der Engel brauchte seine Zeit, bis er das richtige Haus am Tierpark fand. Mit Verspätung kam er ans Ziel. Mittels eines kleinen heiligen Schlüssel öffnete der Engel die Haustür. Im siebenten Stock angekommen, klingelte er an Marias Wohnungstür. Als der erste Ton verhallte, verdunkelte sich bei Familie Nebenan von nebenan der Türspion. Das linke Auge von Frau Nebenan schaute in dreifacher Vergrößerung durch die Optik. Für Nebenan- Auge war auf dem Flur nichts zu entdecken. Nur eine übergroße Mon-Chérie-Praline schwebte wie von Geisterhand gehalten in der Luft, doch die Nebenan glaubte nicht an fliegende Pralinen. So sah sie nichts. Die Tür zu Marias Wohnung öffnete sich, und die Schokolade flog hinein.

„Maria! Gott will dich beschenken. Er hat dich unter allen Frauen auserwählt.“ Die fragte sich erschrocken, was diese seltsamen Worte bedeuten könnten. „Hab keine Angst, Maria“, sprach der Engel. „Gott liebt dich und hat etwas Besonderes mit dir vor. Du wirst einen Sohn zur Welt bringen. Vereiner soll er heißen, und er wird mächtig sein, und man wird ihn Deutschlands Sohn nennen. Seine Herrschaft wird kein Ende haben.“

Während der Engel so sprach, schwebte aus Marias Küche eine Rauch- und Schwefelwolke. „Oh Gott, der Broiler.“ Zu spät. Aus dem Federvieh war ein ungenießbares Stück Kohle geworden. Maria dachte an Joseph und die ihr bevorstehende Warterei in der Schlange vor dem Feinkostladen. Um sie zu beglücken, zauberte der Engel ihr eine Mikrowelle samt Gans und Fertigklößen auf den Tisch. Dann überreichte er ihr die riesige Praline.

Maria kannte solche Pralinen nur aus der Fernsehwerbung. Leise und voller Respekt ging der Engel wieder. Als die Tür hinter ihm ins Schloß krachte, war er heilfroh, seinen Auftrag in diesem Teil der Stadt vollbracht zu haben. Jetzt war erst einmal Erholung angesagt. Unsichtbar für die Grenzer der Volksarmee, flatterte er hastig auf eine Tasse Kaffee ins Kempinski. Maria aber saß zu Hause und schaute auf diese Praline. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Dann löste sie die Verpackung und schlang gierig den Inhalt hinunter. Die heiligen Prozente drangen blitzschnell in ihren Blutkreislauf und erzeugten in ihr ein spirituelles Gefühl. „Ich bin glücklich über Gott meinen Retter. Er hat mich – eine unbedeutende Werktätige – zu Großem berufen.“ Und sie schwor sich: „Da, wo du herkommst, möchte ich auch hin.“

Tage später kaufte die hochschwangere Maria in der Leipziger Straße die letzten Dinge für die bevorstehende Geburt ihres Sohnes. Daß sie so schnell gebären würde, beunruhigte sie nicht. Sie war es gewohnt, die Dinge so zu nehmen, wie sie waren. An einem Grenzübergang nahe des Potsdamer Platzes brach Maria zusammen. Die Wehen hatten eingesetzt. Ein junger Grenzer rannte zu ihr. Kaum daß er bei Maria angelangt war, ertönte ein Schrei. Zusammen mit anderen Grenzern trugen sie Maria und ihren frischgeborenen Sohn zum Checkpoint Charlie. Da es im gesamten Kontrollpunkt keine richtige Krippe gab, wurde der Kleine auf den Stempeltisch eines Offiziers gelegt. Für ein Neugeborenes war er ziemlich dick.

Auf dem Stempeltisch passierte es. Der kleine Vereiner mußte ziemlich doll scheißen. Aber im gesamten Kontrollpunkt gab es keine Windeln. So wurde der Kleine kreuz und quer in Zellstofflagen gewickelt. In diesem Wirrwarr von Scheiße, Stempeltisch und Zellstoff rutschte aus Versehen zwischen die vierte und fünfte Zellstoffbahn ein schwarzer Kasten.

Zu Hause angekommen, befreite Maria ihren Sohn vom Papier. Dabei fiel der verschmutzte Kasten auf den roten Plüschteppich, einem Erbstück aus Josephs Familie. Der Kasten zersprang. Zwischen Kot und Watte fand sich ein Stempel samt Kissen. Maria probierte ihn an der rosigen Arschbacke von Vereiner aus. Kurz danach wurde ihr schlecht. „Worauf habe ich mich nur eingelassen?“ Dasselbe hatte sie sich schon einmal gefragt, damals, als sie Joseph ihr Jawort gab. Auf dem rosaroten Hintern von Vereiner stand geschrieben: „Zur Ausreise zugelassen“.

Langsam begriff sie und dachte an Europa, vor allem an Paris, an spanische Apfelsinen in der Sonne und den Wellengang am Pazifik. Daß der nicht in Europa plätscherte, konnte sie nicht wissen. Das Paradies hatte ihr einen Glücksschlüssel in den Schoß gelegt. Bald schon würden sich seine Pforten öffnen. Maria kramte in ihrem Kleiderschrank. Ganz unten lag er, daß wußte sie. Doch daß sie ihn jemals hätte gebrauchen können, hatte sie nie gedacht. Sie holte ihren blauen Personalausweis hervor, blätterte ihn bis zu den hinteren Seiten durch, holte tief Luft und sprach die magischen Worte: „Da, wo du herkommst, möchte ich auch hin.“ Dann drückte sie den Stempelkopf kräftig in eine der letzten Seiten. Das Mon-Chérie- Papier raschelte auf der Couch.

Es dauerte nicht lange, bis Maria das Verlangen überkam, zu den Nebenans hinüberzugehen, die sicher eh schon alles wußten. Sie klingelte bei ihnen, obwohl die Tür offen stand. Herr Nebenan war auf Arbeit. Seine Frau erkannte die historische Notwendigkeit des Fundes und stempelte sofort ihren Ausweis. „Persönlich habe ich Sie schon immer gemocht, Maria“, sagte Frau Nebenan und meinte es auch so. Maria sagte nichts. Sie ging einen Stock höher zur Familie Müller.

In dem Hochhaus griff ein wahres Stempelfieber um sich. Und als das eine Hochhaus seinen Stempel hatte, wanderte der Kasten zu dem anderen und dann zum nächsten und so weiter. Ganz Lichtenberg bekam den begehrten Stempel aufgedrückt, dicht gefolgt von Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Mitte. Zum Schluß zierte er in Ost-Berlin viele tausend Seiten jungfräuliches Ausweispapier. Den Grenzern vom Checkpoint verschlug es die Sprache. Doch ziemlich schnell fanden sie zu ihrer Verfassung zurück und sprachen von einem geschichtlichen Ereignis. Die Warenhäuser am Ku'damm reihten sich bald ein und schwärmten von einem ungeahnten Umsatz, die Türken in den Dönerläden vom guten Geschmack der Ostdeutschen und die Westdeutschen vom Bruder- und Schwesternverständnis.

Doch die Zeit lief weiter, und das Glück war für viele kürzer, als sie dachten, für andere länger, für wenige ewig. Das Paradies hatte sich überschätzt. Die Pforten, die nun offen standen, gingen nicht mehr zu.