■ Was ist das Heilige Fest schon mehr als Barmherzigkeit im Namen von Brot für die Welt, amnesty international? Was mehr als herzige Public Relation? Auf jeden Fall ist's auch – ein philosophischer Krimi Von Otto Kallscheuer
: Weihnachten – eine Kopfgeburt

Was soll man all den Weihnachtsgeschichten in der Bibel halten? Waren sie wahr? Die Evangelien erzählen unterschiedliche Versionen von Jesu Geburt zu Bethlehem. Literaturspurensuche in vier Akten.

Die Geburtsstunde der Verkündung Christi (oder des Messias) als „Gottes Sohn“ ist uns in allen vier kanonischen Evangelien überliefert – aber das ist nicht die Geburt Jesu von Nazareth, sondern seine Taufe im Jordan. Von seiner Geburt in Bethlehem, der Stadt Davids, erfahren wir dagegen nur bei Matthäus und Lukas – und dies in recht unterschiedlichen Versionen und Akzentuierungen.

Gewiß ist in beiden dieser Versionen davon die Rede, daß der Heilige Geist Gottes für die unerwartete Schwangerschaft einer mit Joseph aus dem Hause David verlobten Jungfrau Maria verantwortlich sei. Wenn jedoch am Beginn des Matthäusevangeliums der Stammbaum „des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ steht – ein über 14 Glieder vor und 14 nach der babylonischen Gefangenschaft lückenloses Geschlechtsregister Jesu (Mt 1, 1-17) –, so liegt hier der Akzent auf der jüdischen Legitimität des durch die Propheten angekündigten Messias, „der sein Volk retten wird vor ihren Sünden“.

Und die Heiligen Drei Könige beglaubigen sogleich die Kunde vom „neugeborenen König der Juden“ (Mt 2,2), womit sie bei dem um seine Legitimität besorgten König Herodes hektische Nervosität, diverse Experten-Hearings (aller Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes) und letzten Endes auch den Kindermord in Bethlehem auslösen.

Die Abstammung Jesu aus dem königlichen Hause David verorteten Leben und Lehren des Christus innerhalb der Geschichte des auserwählten Volkes. Jesus' neue Botschaft des Heils ist primär ethischer Natur – die Maximen und Gleichnisse der „Spruchquelle“ (Q, auf welche Matthäus wie auch Lukas zurückgreifen). Die Ethik der Bergpredigt (Mt 5-7; Lk 6-7) bestätigt, sublimiert und transzendiert das jüdische Sittengesetz, ohne es deshalb zu unterbrechen oder gar in Frage zu stellen. Die neue Heilsgeschichte der Frohbotschaft Jesu setzt also die messianischen Perspektiven Mosis und der Propheten fort – der neue Universalismus der Jesusbewegung ist anschlußfähig an die Legitimität des Alten Bundes: der Sohn Davids und der Gottessohn.

Es ist heute – in Zeiten der biologischen Identitätskrise mancher assistierter Elternschaft – übrigens nicht uninteressant festzustellen, daß diese davidsche Genealogie des „Jesus, der da heißt Christus“, auf der sozialen – und das heißt rechtlichen – Anerkennung der Leibesfrucht Mariae durch den Davidsohn Josef beruht. Vaterschaft im Geschlecht des Messias ist eine übernommene Verantwortung; und im Horizont der jüdisch-heilsgeschichtlichen Anschlußfähigkeit der Jesus-Geschichte ist diese weitaus wichtiger als die leibhaftige Befruchtung Mariae durch den an manch christlichem Stammtische so hämisch bemitleideten Zimmermann Joseph. Gäbe es nur Matthäi Version der Abstammung Jesu, so könnte man in der Tat fragen, wieso eine analoge „adoptive“ Vaterschaft nicht auch zwischen dem Herrn des Alten und dem Sohne des Neuen Testamentes bestehen könnte.

Matthäus' Erzählung von Christi Geburt ist reichlich hölzern gezimmert, doch dies läßt sich vom Evangelium nach Lukas nicht sagen. Dieser Literat unter den Evangelisten, ein Schriftsteller „für Frauen“ (wie G.B. Shaw sein Evangelium charakterisierte), ist ein Drehbuchautor ersten Ranges. Von der (auf die herodianische Verfolgung zurückgehenden) Flucht nach Ägypten und den (die messianische Legitimität bestätigenden) Heiligen Drei Königen aus dem Morgenlande abgesehen, stammen alle ikonographischen Details unseres Bildes von Weihnachten aus dem Lukas-Szenario. Hier stimmt einfach alles – die Krippe, die Engel, die Hirten, das Konzert der himmlischen Heerscharen in gewolltem Kontrast zur „einfachen, aber ehrlichen“ Armut der Weihnachtsszenerie.

Schon Mariae Empfängnis bzw. die Verkündigung des göttlichen Boten an die Jungfrau hatte bei Lukas ihre symbolische Generalprobe in der analogen Ankündigung der unwahrscheinlichen Geburt Johannes des Täufers an dessen Vater. Engel Gabriel teilt sie dem alten Priester Zacharias mit, während dieser im Tempel zu Jerusalem das Räucheropfer an Jahwe darbringt – in offenkundiger Parallele zur Verkündung unerwarteter Nachkommenschaft an Abraham (Gen 12 ff.). Johannes, der Vorläufer des neuen Messias, wurzelt im Gottesdienst des Alten Bundes, aber verweist schon auf ein neues Israel (Lukas redigierte natürlich seinen Bericht nach der Zerstörung des Tempels im jüdischen Krieg). Ein kunstvoller Zusammenhang wird entsponnen, in Wort und Fleisch: Johannes entspricht (und überbietet) Elia, er erkennt den Heiland schon im Mutterleib, als Elisabeth Jesu Mutter Maria begrüßt.

Natürlich – auch Lukas' Weihnachtsgeschichte verweist auf den prophetischen Hintergrund alttestamentarischer Verkündigung, aber das Wunder der Geburt des Gottessohnes aus einer höchst feinsinnigen Jungfrau überschreitet die lineare Transmission messianischer Legitimität „von Geschlecht zu Geschlecht“ schon im Momente der Empfängnis, im Liebes- und Lobgesang der Braut (Lk 1, 46-56): Die Erhöhung der Magd Israel/Maria durch die Barmherzigkeit Gottes des Barmherzigen verbindet Motive prophetischer Sozialkritik mit psalmodischer Liebeslyrik zu einer neuen Religion des Herzens.

Zeichen und Bezeichnetes treten in der Erzählstrategie des Lukas-Evangeliums weit auseinander, schon in der Weihnachtsbotschaft – das in Windeln gewickelte Kind und die Herrschaft Gottes. Die jüdisch-messianische Matrix, Erbschaft Davids und Heilshoffnung Israels, sind hier nur mehr der Mutterschoß eines neuen, unviversalischen Codes von Erlösung: Die neue Menschheit nimmt Gestalt an in der Gottheit Jesu. Dessen Durchsetzung hat derselbe Lukas ja in der Apostelgeschichte am Beispiel des Kampfs zweier Linien in Antiochia und Jerusalem protokolliert (Apg 15).

Es geht in diesem Evangelium zugleich leibhaftiger und sentimentaler zu als bei Matthäus: die Corporate identity der dissident-jüdischen Jesus-Bewegung, die aus Jesu Geboten und Gleichnissen sprechende Sozialkritik seiner messianischen Botschaft wird vom Evangelisten Lukas durch eine individualistische Empfindsamkeit gleichsam überboten. Lukas' in Bethlehems Krippe geborener Heiland ist der Messias der Herzen – seine Erniedrigung Ebenbild göttlicher Barmherzigkeit, welche die Magd erhöht und die Hoffärtigen zerstreut. Lukas' Weihnacht feiert die Religion der Humanität, einen Protestantismus des Herzens, wie ihn der arme Jean- Jacques Rousseau und sein deutscher Bruder Johann Gottfried Herder im Sinn führten. Ihre Botschaft ist moralisch-praktisch; die Gottheit muß in ihrem Ebenbilde dem Menschen erst noch gebildet werden – sie kennt „keine andre (Glaubenswahrheit) als die, welche uns die ganze Schöpfung zuruft: Erkenne Gott als Vater, Dich als sein lebendiges Organ. Du bist ein Mensch, unter Menschen, für Menschen... Das Göttliche also, aber auch das Schwache der Menschennatur zu erkennen, dies Schwache unermüdlich-helfend zu tragen, mit desto größerem Eifer aber das Starke, Reine, Edle in sich und anderen zu erwecken, und hiezu mit allem, was Mensch ist, gemeinschaftlich zu wirken; das wäre die Regel“ (Herder).

Um die Geburt des Gottessohnes hingegen geht es in einer anderen Bibel-Geschichte: Die Taufe Jesu im Jordan, von allen vier Evangelien überliefert, dokumentiert zugleich, daß die neue Jesus-Bewegung aus der Täufer-Gemeinde des Johannes hervorgeht bzw. diese ablöst. Nachdem Jesus vom Propheten Johannes die Taufe empfangen hat und aus dem Wasser steigt, kommt es zur Epiphanie – so berichten die drei Synoptiker (Mt 3,13ff.; Mk 1,9ff.; Lk 3, 21ff.): Wie eine Taube kommt der Geist Gottes auf Jesus hernieder, die Himmel öffnen sich, und der Herr des Himmels läßt verlauten: „Du bist mein lieber Sohn – denn an dir habe ich Wohlgefallen.“ In einigen apokryphen Schriften aus der Entstehungszeit und im Umkreis der kanonischen Evangelien wird der paradoxe Umstand, daß sich der Sohn Gottes von seinem Vorläufer, einem bloßen Propheten, taufen (also reinigen) läßt, eher heruntergespielt, umgangen oder sogar in Frage gestellt.

Im Evangelium nach Johannes schließlich wird von der Taufe Jesu selber gar nicht mehr berichtete. Jetzt ist es Jesu „Vorläufer“, der Täufer Johannes selber, der die Epiphanie bezeugt – er gibt damit sozusagen den Stab seiner Verkündigung weiter an Jesus „das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt“. Denn Jesus tauft nicht nur im Jordan, sprich: außerhalb des Tempels von Jerusalem, der Messias tauft nicht einmal mehr mit rituellem Wasser. Jesus taufe „mit dem Heiligen Geist“ – freilich dürfte dieses Zeugnis des Rufers in der Wüste wohl von seinem Namensvetter, dem Evangelisten Johannes, nachgebessert worden sein. Johannes: „Ich sah, daß der Geist vom Himmel herabkam wie eine Taube und auf ihm blieb. Auch ich kannte ihn zuerst nicht... Das habe ich gesehen, und ich bezeuge: Es ist der Sohn Gottes.“ (Joh 1,29ff.)

Bei dem Evangelisten Johannes erhält nun die Erwählung des Jesus zum Christus und seine Identität als Gottessohn eine starke, mehr als symbolische Bedeutung. Er läßt Johannes (den Vorläufer) von Christus als dem „Lamm Gottes“ sprechen, also einem wahrhaftigen Opfer. Sodann nennt er ihn den „Mann, der mir voraus ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er Israel offenbar werde, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser.“ Es gab Gottes Sohn also schon vor seiner Erwählung zum Messias? Lange bevor Johannes ihn erkennt (er hat ihn also nicht, wie in Lukas' Drehbuch, schon im Mutterleib erkannt) und tauft (auf daß Israel ihn erkenne)...

Gab es Christus? Wenn Gottes Sohn ebenso Gott ist wie Gott selbst, dann kann er doch gar nicht erst im Moment seiner Geburt auf die Welt kommen. Denn käme er innerhalb der Zeit auf die Welt, dann wäre er ja selber ein Geschöpf, ein Bestandteil der Welt, und also nicht ihr Urheber, Gott im vollen Sinne. Ist der Sohn aber ebenso Gott wie der, der er ist, dann ist er dies von ewig her; und der Prolog des Johannes nennt ihn das Wort (oder Logos); und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott, kann also gar nicht geboren werden.

Kein Wunder, daß im Johannesevangelium von der Weihnachtsgeschichte nicht die Rede ist...

Der Logos, das ewig gezeugte Wort, hat sich zum Menschen gemacht, ist „Fleisch“ geworden: Was aber heißt hier Mensch, wenn das „Wort“ Subjekt ist und das „Fleisch“ Prädikat ist und bleibt (Karl Barth)? Hat der Messias zwei Naturen – ganz Mensch und wahrer Gott? Das müssen wir ein andermal durchbuchstabieren. Aber nicht Weihnachten, bitte!

Otto Kallscheuer, Philosoph, gab 1996 Europa der Religionen(Fischer, Frankfurt a. Main, 36 Mark) heraus.