: Der Konjunktiv der Zwangsjacke
■ Die Hamburgerin Susanne Marten hat den Hamburger Förderpreis für Literatur 1997 erhalten
Ihren Weg zur Literatur begann Susanne Marten über den Umweg der Philosophie. Ihr Interesse für alte Sprachen führte sie an die Anfänge des griechischen Denkens. In ihrem Zimmer nimmt eine Büste Platons einen besonderen Platz ein. Und wenn sie von ihrer Studienzeit und ihrer Tätigkeit als Tutorin spricht, verweist sie zwischendurch bedeutungsvoll auf die unverstaubte Figur. Sosehr sie sich in der Auseinandersetzung mit philosophischen Texten auch wiederfand, sowenig konnte sie langfristig dem akademischen Umgang mit diesen Schriften etwas abgewinnen. „Mir wurde bewußt“, erinnert sie sich, „daß das, was mir am Philosophieren am meisten lag – die individuelle Verknüpfung aus Nachdenken und Erfinden, Genauigkeit und Spekulation, Wort und Wahrheit – noch treffender in der Literatur aufgehoben wäre.“
Als sie 1984 das Studium abbrach, tat sie das in dem sicheren Gefühl, ihre eigentliche Aufgabe gefunden zu haben. Von heute auf morgen begann sie, Gedichte und Erzählungen zu schreiben, und es kommt ihr so vor, als ob sie immer schon auf diese Form des Schreibens hingelebt habe. 1990 bewarb sie sich erfolgreich für das Literaturstipendium an der Akademie Schloß Solitude in Stuttgart, wo sie sich mit Unterbrechungen bis 1992 immer wieder aufhielt. Dort kam sie mit Künstlern aus anderen Sparten und Nationalitäten zusammen, erarbeitete mit ihnen verschiedene Projekte – Lesungen, Übersetzungen, essayistische Texte zu Bildender Kunst und Musik – und schrieb unter anderem an einem Roman. Ihre literarische Entwicklung wurde 1992 durch einen schweren Autounfall jäh unterbrochen. Seitdem hat sie viele Monate in einer Spezialklinik im Allgäu verbracht. Bis heute kehrt sie mehrmals im Jahr dorthin zurück, um sich wegen der Folgen des Unfalls behandeln zu lassen.
Über ihre Arbeit spricht Susanne Marten mit der Genauigkeit und der Obsessivität, die die Leser auch in ihren Erzählungen vorfinden. Ihre Geschichten, etwa Das Kästchen, das von der Jury prämiert worden ist, wirken hermetisch, fast klaustrophobisch, wäre da nicht eine immer wieder durchschimmernde Heiterkeit, die der Trauer die Spitze nimmt. Das Kästchen nennt sich „Ich“und scheint durch die „Kästchentheorie“der anderen – Freunde oder Feinde, so genau weiß die Erzählerin das nicht – gefangen zu sein. Wie in einer sozialen Zwangsjacke fühlt sie sich durch die Bemerkungen und Blicke der anderen beengt und flüchtet sich in „ein Hotel in einem Kaff im Niemandsland“. Dort begegnet sie einem Fremden, mit dem sie eine Affäre beginnt. Aber nichts von dem ist wirklich. Je detaillierter sie sich das Verhältnis zu dem Fremden ausmalt – er ist Mykologe und lehrt sie, die verschiedenen Pilze namentlich zu unterscheiden und auch zuzubereiten –, desto mehr öffnet sich der Spalt zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Wie sie selbst bleibt auch die Sprache im Modus des Konjunktivs.
Susanne Martens Erzählungen setzen sich aus zahlreichen Puzzlestücken zusammen. Fragmente aus sinnlichen Beobachtungen (geleitet von Tast-, Geruchs-, Geschmacks- und Sehsinn), philosophischen Reflexionen (über die Zeit, den Tod und die Logik) und Wissenschaftssprache – in der Erzählung Nichts als die Fakten bedient sie sich der Sprache der Gehirnforschung – fügt sie zu einer fragilen Totalität zusammen. Aus ihrer Monadenhaftigkeit können sich ihre Protagonisten nur befreien, indem sie von sich erzählen. In diesem Sinne tragen sie wohl auch immer autobiographische Züge der Autorin.
Mit dem Erhalt des Förderpreises verbindet die 43jährige Hamburger Schriftstellerin eine „kopernikanische Wende“. Ihre Scheu vor der unheilvollen Verbindung von Kunst und Markt, die sie lange Zeit mit sich herumtrug, bezeichnet sie inzwischen als eine „komische Form von Eitelkeit“. Sie will jetzt versuchen, einen Verleger für ihre Arbeiten zu finden. Über 40 Geschichten sind in den letzten Jahren entstanden. Und auch der Roman, an dem sie zu Stuttgarter Zeiten in der Akademie Solitude gearbeitet hat, ist längst fertig. Er trägt den Titel Dies eine Lied. In ihrer Aufbruchsstimmung wirkt Susanne Marten entschlossen wie die Ich-Erzählerin aus Das Kästchen, als diese am Ende sagt: „Wenn man zum Äußersten nicht bereit ist, macht es keinen Sinn, überhaupt anzufangen.“
Joachim Dicks / Foto: Susanne Marten
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