Echter als die Wirklichkeit

■ Neues und Vergessenes aus der Welt der Modelleisenbahn: Vor dem untrüglichen Wirklichkeitssinn der Häuslebauer verblassen alle Träume / Auf nach „St.-Niklaus“!

Modelleisenbahner sind gar nicht so furztrocken, wie man gemeinhin glaubt – sie haben durchaus Witz: Der eine oder andere Tüftler unter ihnen baut sich im stickigen Keller eine Traumwelt auf, in der neben dem Bahnhof „St.-Niklaus“und der Thüringer Würstlebude auch ein brennendes Finanzamt seinen Platz an den Gleisen findet. Da schlägt das Steuerzahler-Herz höher.

Das Besondere an dem Bausatz nämlich sind „die verwitterten, rauchgeschwärzten Fassaden – ein Spezial Rauchgenerator 16 Volt erzeugt dichten Qualm aus den Fensteröffnungen“(Katalogtext). Wer beim Steuerzahlen gespart hat, der kauft sich dazu noch einen Notarztwagen, eine grüne Minna und natürlich einen Feuerwehrlöschzug. Denn – das wird schnell klar – es geht um Realismus im Eisenbahnkeller.

Für alte Hasen unter den Modelleisenbahnern ist das brennende Finanzamt längst ein alter Hut – es brennt schon seit zehn bis zwölf Jahren erinnert sich Jochen Bürckel. „Die, die es als Gag haben wollten, besitzen es längst“, meint der Inhaber eines Bremer Spielwarenfachgeschäfts.

Nicht die Befreiung vom Fiskus sondern dunkle Wolken über Eisenbahn-Town symbolisiert das Modell „Arbeitsamt“. Das verwitterte Gebäude mit dem symbolträchtigen roten Dreiecks-A ist ein Exclusivmodell der Firma Pola: handnummeriert und mit Echtheitszertifikat. Folglich hält die Rezession weltweit nur in höchstens 2.000 Spielzeugeisenbahnstädten Einzug. Dort aber richtig: Für den besonderen Realismus-Kick empfiehlt der Vertreiber, einen roten VW-Bus der IG Metall vor dem Amt zu parken – zur „moralischen Unterstützung“der Arbeitslosen.

Die dazu passenden Menschenschlangen könne er „bis zum Abwinken“besorgen, versichert Modellbauer Bernd M. Schulz. „Sie können die Schlange sogar zweistufig hinstellen“, erzählt er stolz. „Ich weiß aber nicht, ob es einen Norbert Blüm dazu gibt.“

Bekommen die Bewohner des Modell-Örtchens an den Bahngleisen auch die ganze Härte der Arbeitslosigkeit zu spüren, so ist das ökologische Bewußtsein der Mini-Bürger doch vorbildlich. Zumindest wollen es so die Modellbau-Freaks, die für 25 Mark 50 ein fortschrittliches Umwelt-Set auf den Parkplätzen ihrer Bahnhöfe plazieren.

In poppigen Farben reihen sich Altpapiercontainer neben Buntglasbehälter, umringt von emsigen Wiederverwer-tern.

Aber nicht alle Bewohner der Vorzeigestadt sind Saubermänner. Auch in der Idylle gibt es Ferkel, die sich nächtens im Rotlichtbezirk vergnügen. Oder wa-rum sonst preist der Katalog für Lokomotivfreunde das Modell „Paradise Bar“an? Vor dem Night Club mit Live Show stehen sich die Nutten die Füße platt – in kurzen Röckchen versteht sich, mit sexy enganliegenden T-Shirts und High-Heels. Wie geht es dann erst hinter den beleuchteten Fenstern zu, hinter denen deutlich die Umrisse nackter Frauen zu sehen sind. Wie in echt.

Kirsten Hartje