Psychosekten auf dem Vormarsch

■ Jugendsenatorin legt den neuen Sektenbericht vor. Warnung vor Glücksversprechungen in unsicheren Zeiten. Bündnisgrüne bezweifeln dagegen, ob der Staat überhaupt warnen darf

Berlin wird mehr und mehr zum Mekka für Sekten und Psychogruppen. Dieser Trend wird sich wegen der Hauptstadtfunktion Berlins in Zukunft sogar noch verstärken. Dies erklärte gestern Jugendsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), als sie den vierten Berliner Sektenbericht vorstellte.

Die Zahl der Sekten und Psychogruppen und die Umsätze, so Stahmer, seien in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Besonders starken Zulauf hätten Psychokulte und christliche Fundamentalisten. Konkrete Zahlen konnte die Senatorin aber nicht vorlegen. Stahmer verwies allerdings darauf, daß sich die Anfragen von Betroffenen bei ihrer Behörde seit 1994 fast verdreifacht hätten.

Mehrere hundert Sekten und Psychogruppen haben sich in Berlin niedergelassen. Das Angebot sei auch deshalb „größer als je zuvor“, weil das Zeitalter der Globalisierung auch auf dem Sekten- und Psychomarkt Einzug gehalten hat: „Inzwischen werden die Angebote aus allen Ecken der Welt frei ins Haus geliefert“, so Stahmer. In biographischen Umbruchphasen wie Arbeitslosigkeit oder einfach bei Beziehungsproblemen werden die Werber überhaupt erst wahrgenommen: die strammstehenden Zeugen Jehovas mit dem Wachturm im Arm oder auch nur Anzeigen in tip oder zitty.

Als Beispiel für diese Seelenfängerei nennt der Sektenbericht die Kontext Seminar GmbH. Geworben wird unter anderem in der zitty mit Inseraten wie: „Beziehung und Kommunikation: Ein Seminar für alle, die Beziehungsprobleme haben“. Wer sich daraufhin meldet, landet bei Frau Drögsler, die sich Psychologin nennt, obwohl sie nur wenige Semester an der Uni war. Drögsler will den Glück suchenden Seminarteilnehmern mit Kursen zum Preis von bis zu 500 Mark ihre „Schleimspur“ – in der Kindheit gelernte, negative Einstellungen – abtrainieren.

Ein Patentrezept, wie mit Sekten und Psychogruppen umzugehen sei, gibt es in den Augen von Stahmer nicht. Die Senatorin lehnt deshalb den Ruf nach Verboten, aber auch unkritische Toleranz ab: „Wir setzen auf Aufklärung und Information.“ Der 60seitige Bericht stellt nicht nur verschiedene Gruppen vor, sondern liefert auch Adressen von Beratungsstellen.

Sektenbeauftragte Anne Rühle rechnet damit, daß einige Gruppen wegen des Berichts vor Gericht gehen werden, deswegen wurden schon mal vorsichtshalber 9.000 davon verschickt. Denn der letzte Bericht aus dem Jahre 1994 durfte während der sofort erhobenen Klagen – die bisher alle zurückgewiesen wurden – lange nicht verteilt werden.

Protest gibt es allerdings schon – allerdings nicht von okkulten Psychosekten, sondern den Grünen. Weil der Sektenbericht „oberflächlich und diskriminierend“ sei, „sich in Pauschalurteilen gegenüber religiösen und weltanschaulichen Minderheiten ergeht“, hat die bündnisgrüne Fraktion gefordert, den Bericht zurückzuziehen, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, ob der Staat allgemein vor religiösen Bewegungen warnen darf. Karen Wientgen