„Kleiner, roter Ziegelstein, baust die Welt von ganz allein“

Hamburgs gemeinnütziger Wohnungsgigant SAGA wurde 75 Jahre alt. Eine kritische Würdigung in fünf Teilen  ■ Von Florian Marten

I. Sozialdemokratisches Wir-Gefühl

„Wir sind die Roten. Wir sind die Hamburg-Partei!“Als Henning Voscherau seiner SPD im Juni 1988 diese Sätze einhämmert, blitzt es noch einmal auf, jenes gute, alte „Wir-Gefühl“. Eine Corporate Identity mit umfassendem Machtanspruch, die weder vom Betriebspsychologen noch vom Partei-Designer stammt – ihr Fundament ruht auf den „kleinen roten Ziegelsteinen“des sozialen Wohnungsbaus.

In dieser Disziplin sind Hamburgs Sozialdemokraten Europameister: Von Neu-Allermöhe bis Langenhorn, von Dulsberg bis Rothenburgsort, von der Jarrestadt bis Fischbek-Süd durchziehen mächtige Adern aus Backstein oder Betonplatte die Stadt. In Generationen bildete sich hier ein Humus aus Wohnungen, Wohlstand und Wählerstimmen, der über Generationen die Machtbasis der SPD bildete. Keine andere Institution repräsentiert dies eindrucksvoller als die senatsunmittelbare Gemeinnützige Siedlungs-Aktiengesellschaft Hamburg, die – 1922 von Altonas SPD-Bürgermeister Max Brauer als Siedlungs-Aktien-Gesellschaft Altona (SAGA) gegründet – 1997 ihren 75. Geburtstag feiert.

An stillvergnügtem Selbstbewußtsein mangelt es dem ehrwürdigen Jubilar nicht. Zwar leiden auch die beiden SAGA-Chefs Hartmut Brosius und Willi Hoppenstedt unter dem öffentlichen Negativ-Image – dem Wissen um die eigene Bedeutung tut dies aber keinen Abbruch. Schließlich ist die SAGA mit ihrem Bestand von 100.000 Wohnungen und jährlichen Investitionen von mehr als einer halben Milliarde Mark eines der größten europäischen Wohnungsunternehmen. Vor allem aber hält sie direkten Kontakt mit jeder achten Hamburger Wählerstimme, hat mit ihrem Aufsichtsratsvorsitzenden und Bausenator Eugen Wagner einen eigenen Sitz im Senat und profitiert von den in Generationen gewachsenen engsten persönlichen Verflechtungen mit Politik und Verwaltung.

II. Das rote Wien ist tot

13. Oktober 1996. Ein politisches Erdbeben erschüttert die österreichische Hauptstadt. Zum ersten Mal seit 1918 verlieren die Sozialisten bei freien Wahlen ihre absolute Mehrheit. In den „Arbeiterpalästen“des sozialen Wohnungsbaus erlebt die SPÖ ihre bittersten Einbrüche. Das Rote Wien ist tot. Der Austrosozialismus verdorrt an seinen Wurzeln.

1918 hatten die Sozialisten mit revolutionärem Pathos und pragmatischen Tageszielen erstmals den Wiener Stadtrat erobert. Und sie nutzten, wie nur wenig später die Sozialdemokraten in Altona und Hamburg, ihre Macht. Das „Wunderbare der sozialen Reformen“, wie die konservative britische Tageszeitung Spectator damals anerkennend vermerkte, setzte sich vor allem aus kleinen roten Ziegelsteinen zusammen: 65.000 Wohnungen, 12 Prozent des gesamten Bestandes, werden bis 1934 errichtet. Wohnungen? Festungen der Arbeiterklasse! Strategisch über das ganze Stadtgebiet verstreut entstehen mächtige, meist gegenüber ihrer alten Umgebung architektonisch abgeschottete Großsiedlungen.

Am 13. Oktober 1996 träumt kaum noch ein Genosse in den Arbeiterhöfen von Sozialismus und internationaler Solidarität. Eine wachsende Zahl der heutigen BewohnerInnen sorgt sich um Couchgarnitur, Arbeitsplatz und „Polacken“. Jörg Haider findet reiche Stimmenbeute.

Kleiner roter Ziegelstein, baust die neue Welt“, hatten die Maurerbrigaden 1918 in Wien gesungen, und Hamburg hörte mit. Der damalige Hamburger Stadtbaumeister Fritz Schumacher entdeckte im Backstein, gebrannt aus norddeutscher Tonerde, gar eine „ordnende innere Kraft“. Mit den roten Backsteinachsen in Dulsberg, in Nord-Barmbek, auf der Veddel, in Hamm und im Gebiet zwischen Wiesendamm und Jarrestadt entstehen moderne Arbeiterquartiere, deren räumliche Ordnung im Verbund mit den auf sie abgestimmten Grünzügen Hamburgs Wachstum strukturiert.

III. Hamburg ist SAGA-Land

Nach 1945 nutzt Max Brauer seine SAGA als Eckpfeiler einer beispiellosen Aufbauwut, die sich bruchlos von den neckisch schräg angeordneten Ziegelkasernen der 50er Jahre über die Großsiedlungen der 60er und 70er bis zum Hausgehäufel im Grachtenimitat Allermöhe fortsetzt. 1967 übergibt Bürgermeister Herbert Weichmann in der SAGA-Siedlung Osdorfer Born die 400.000ste nach dem Krieg neu gebaute Wohnung an eine kinderreiche Familie.

Ging es zunächst um Bedarfsdeckung, so steht jetzt der Städtebau im Vordergrund: „Das Hauptaugenmerk der SAGA wird heute“, so betont 1972 der legendäre Bausenator Caesar Meister, „darauf gerichtet sein, auf dem umfassenden Gebiet der Stadtentwicklung tätig zu werden.“Das Zeitalter des sozialliberalen Zentralismus beginnt: Die SAGA darf sich als Präsent zu ihrem 50. Geburtstag drei kleinere städtische Wohnungsgesellschaften einverleiben – Hamburg wird SAGA-Land.

Urbanität durch Dichte“, so erklärt der langjährige Baubehörden-Chefplaner Tassilo Braune rückblickend, war das Leitbild des „Großsiedlungsbaus“. Was mit den Grindelhochhäusern als innerstädtischem Kontrapunkt 1956 begann, sich in Lurups Großsiedlung „Morgenröte“1966 schon legomäßig hochtürmte, fand am Osdorfer Born, in Steilshoop und Mümmelmannsberg seine Erfüllung. In Braunes Diktion handelt es sich dabei um „die Versuche, komplexe, in sich selbst tragfähige Stadteinheiten zu schaffen.“

SAGA, Senat und Stadtplaner waren 1972, dem letzten Jahr der Vollbeschäftigung, fest überzeugt, mit neuen Großstadtteilen den Grundstein zu weiteren Jahrzehnten voll Wachstum, Wohlstand und Wählerdankbarkeit gelegt zu haben.

IV. Ärger im Sozial-wohnungs-Paradies

Der Wiener Stimmen-Erdrutsch vom Oktober 1996 vollzieht sich in Hamburg in Zeitlupe – seit 1986 von Wahl zu Wahl aber immer deutlicher. So auch am 21. September 1997: In den Hochburgen des Roten Hamburg, den Sozialwohnungsquartieren der 20er und 30er Jahre, besonders aber in den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre setzt sich der kontinuierliche Rückgang von Wahlbeteiligung und SPD-Stimmen fort.

Die schöne neue Welt der kleinen roten Ziegelsteine ist perdu. Zerfall statt Zukunft, Gewalt statt Genossen, Armut statt Arbeiterparadies, Wahlverdruß statt Wir-Gefühl. Zwar erreicht die SPD in einigen Großsiedlungen immer noch überdurchschnittliche Ergebnisse – doch wo einst 60 bis 70 Prozent die Regel waren, dominieren heute die Nichtwähler. Die SPD kann froh sein, wenn sie über 50 Prozent kommt und die Rechtsradikalen unterhalb von 20 Prozent bleiben.

Am Ende des 20.Jahrhunderts ist das Hamburger Gesamtkunstwerk aus Wohnungsbau, Genossenschaften, Gewerkschaften und Parteigliederungen zerbröselt. Die „Neue Heimat“ist tot, die Konsumgenossenschaft „Produktion“zerschlagen. Die Bewohner von Mümmelmannsberg, Steilshoop und Kirchdorf-Süd schämen sich ihrer Herkunft. SAGA – das klingt nicht mehr nach Fortschritt, sondern nach Elend. SAGA-Wohnung – das ist die letzte Behausung vor der Obdachlosigkeit.

Die SAGA am Ende? Ende der 80er Jahre schien es so: Der Neubau war dank der gewohnten Weitsicht des Aufsichtsratsvorsitzenden Eugen Wagner eingestellt, der Instandhaltungsstau hatte sich auf mehrere Milliarden Mark aufgebaut, mit 840 Mark pro Wohnung und Jahr lagen die Verwaltungskosten um fast 100 Prozent über der Norm. Die SAGA war zum Sanierungsfall verkommen.

V. Kleines grünes Selbsthilfeprojekt

Wer sich allerdings heute bei Experten, Mietern, Mitarbeitern und Managern der SAGA umhört, kommt aus dem Staunen so schnell nicht heraus. An Lob und Anerkennung ist selbst bei früher beinharten Kritikern kein Mangel. Zwar schwankt die Beurteilungsbrandbreite von „erste kleine Ansätze zu Neuem Denken“bis zu „in die SAGA ist wirklich Bewegung gekommen“– keinen Zweifel gibt es jedoch daran, daß sich bei der SAGA seit 1988 Grundlegendes verändert hat.

Unter der Geschäftsführung des nachdenklichen Humanisten Hartmut Brosius, der sich und seinen Mitarbeitern die Öffnung gegenüber neuen Ansätzen verordnete, hat sich der Wohnungsdinosaurier, befördert auch durch den Generationswechsel im SAGA-Apparat, in Bewegung gesetzt.

Da wachsen Grasdächer, da guckt sich das Management auswärts nach neuen Ideen um, da wird in Brennstoffzellen-Blockheizkraftwerke investiert, mit Niedrigenergiehäusern experimentiert. Da wird endlich in bestehenden Siedlungen nachverdichtet, werden mit den Mietern variable Grundrisse abgesprochen, dürfen kreative Architekten sich bei kleinteiliger Sanierung Wegweisendes einfallen lassen.

In Heimfeld-Nord sitzen SAGA-Vertreter mit Beschäftigungsgesellschaften des Armutsbekämpfungsprogramms zusammen, entwickeln gemeinsam schlüssige Konzepte, die Arbeitsplätze, ein besseres soziales Klima und natürlich die überfällige Sanierung der Wohnsubstanz zum Ziel haben. Auch die Zusammenarbeit mit alternativen Sanierungsträgern, anderthalb Jahrzehnte lang ein Tabu, zeigt erste Früchte: Wohnungsmodernisierung gemeinsam mit den Mietern und in Anrechnung von Selbsthilfe-Anteilen wird ausprobiert.

In Kirchdorf-Süd offeriert ein ABM-Projekt zuvor arbeitsloser Frauen Nachbarschaftshilfe vom Schulpausenbrot übers Baby-Sitting bis zur leichten Krankenpflege. Für Steilshoop ist das Frauencaf nicht nur ein wichtiger Kommunikationspunkt – es schafft auch feste Dauerarbeitsplätze. Ebenfalls in Steilshoop haben Streetworker im Verbund mit arbeitslosen Jugendlichen eine Renovierungstruppe aufgebaut, die Kleinreparaturen ausführt.

SAGA-Geschäftsführer Willi Hoppenstedt ist sicher, daß sich dies rentiert: „Viele kommunale Wohnungsunternehmen haben noch nicht erkannt, daß Vandalismus, Mietrückstände und Beeinträchtigungen des Wohnwerts einer Siedlung heute ohne soziale Maßnahmen nicht erfolgversprechend angegangen werden können.“

Den Wandel der SAGA von der zentral-bürokratischen Plattenbaufirma zum soften Stadtteilsanierer befördert auch die Organisationsreform. So verlagert die SAGA allmählich Kompetenzen aus ihrem Turm in Altonas Großer Bergstraße nach unten. Die vor einigen Jahren begonnene Dezentralisierung, welche den Wohnungsbestand jetzt von zehn Regionalgeschäftsstellen verwalten läßt, zeigt erste Erfolge.

Seit Januar 1996 haben die regionalen Geschäftsstellen sogar bei Neubauprojekten die Bauherrenfunktion. In Rahlstedt wird derzeit ein weiterer Baustein besserer Vor-Ort-Verwaltung ausprobiert: Teams aus je vier SAGA-Mitarbeitern kümmern sich, von der Mietbuchhaltung über Reparaturen bis zu Neuvermietungen, um je 2.500 Wohnungen. Hoppenstedt ist sich sicher, daß dies auch zu einer „radikalen Reduzierung von Mietrückständen und Räumungsklagen“führen wird.

Für Willi Hoppenstedt ist die Transformation des althergebrachten Backsteinsozialismus in eine Der-Kunde-ist-König-Gesellschaft nur noch eine Frage der Zeit. Er sieht die SAGA der Zukunft als „wirkliches komplettes Dienstleistungsunternehmen rund um die Immobilie“, als allumfassenden Breitwanddienstleister, der seinen Mietern vom Kabelanschluß bis zur Altenpflege, vom Wohngeldantrag bis zum Kindergartenplatz, von der Heizungswartung bis zum ISDN-Netz, vom Mobilitätsmanagement bis zur sozialen Betreuung, vom Einkaufslieferservice bis zum Quartiersradio all das bietet, was das Leben erst lebenswert macht. Keine Blockwartsmentalität, keine sozialfürsorgerische Bevormundung mehr, sondern Service-Orientierung, totales Qualitätsmanagement und flache Hierarchien vom Feinsten.

Die SAGA 1997 – alles prima? Kritiker malen dem städtischen Wohnungsriesen da trotz allen Lobes im Detail noch ganz dicke Fragezeichen ins Stammbuch: Noch immer gibt es Filz und Mieterfeindlichkeit, Instandhaltungsstau und Zwangsverkabelung, Wohnungsbau auf der grünen Wiese und eine übergroße, umständliche SAGA-Zentrale.

Doch allmählich werden die Konturen einer neuen SAGA sichtbar. In den Trümmern des unwiederbringlich verlorenen Roter-Backstein-Wir-Gefühls grünen erste Sprossen wirklicher Mieterorientierung, vernetzter Denke und ganzheitlicher sozialer Verantwortung. Der kleine rote Ziegelstein mutiert vielleicht tatsächlich zu einem sozialen, grünen Selbsthilfeprojekt.