Probewohnen für ein Leben nach der „Platte“

Obdachlosen ist nicht allein mit einer eigenen Wohnung geholfen: Sie brauchen sozialpädagogische Betreuung und hauswirtschaftliche Beratung, um nicht gleich wieder auf der Straße zu landen. Obdachlosenzeitung „Motz“ setzt dagegen auf Selbsthilfe  ■ Von Julia Naumann

Winzig ist es schon, das Apartment. 23 Quadratmeter, mit einer kleinen Küchenzeile und einem Badezimmer, in der sogar eine Wanne steht. Die Wände des Zimmers sind kahl und etwas schmuddelig und außer einem großen Fernseher samt Zimmerantenne ist eine rote Luftmatratze das einzige Möbelstück. Doch schon bald soll sich das karge Domizil in eine richtige Wohnung verwandeln: Birk Valentin, der seit Anfang Dezember in dem leerstehenden Seniorenheim in der Güntzelstraße „probewohnt“, möchte als erstes die Wände streichen. Einen Schrank, ein Sofa und zwei Sessel bekommt er dann von seinem Schwager. Und wenn alles frisch renoviert ist und die Möbel stehen, dann fühlt der 35jährige sich wieder richtig zu Hause. Das hofft er jedenfalls. Denn Birk Valentin hat es in den vergangenen Jahren – seit er obdachlos war – nie besonders lange an irgendeinem Platz ausgehalten.

Bis 1989 war sein Leben dagegen ganz konstant. Birk Valentin hatte in Potsdam als Transportarbeiter in einer Druckerei gearbeitet und bis dahin bei seinen Eltern gewohnt. Doch nach der Wende gab es Krach mit Mutter und Vater, und „da bin ich dann freiwillig auf die Straße gegangen“. Er arbeitete einige Jahre in einem kleinen Provinzzirkus als Tierpfleger, doch als der pleite machte, war er 1995 wieder obdachlos.

Valentin wohnte eigentlich überall: im Sommer im Grunewald und am Wannsee; im Winter in einem Heim der Heilsarmee oder in einer Pension. In den muffigen Pensionen hat er es nie lange ausgehalten. Zu strenge Regeln gab es da: keine Frauen oder Kumpels durften mit aufs Zimmer genommen, kein Alkohol getrunken werden. Die Intimsphäre fehlte völlig. „Ich hatte einen Schrank, aber der war nicht abschließbar“, erzählt Valentin. Valentin hofft jetzt, in dem ehemaligen Altenwohnheim wieder Fuß zu fassen. Dort kann er nämlich „probewohnen“, sich schrittweise auf ein Leben in einer regulären Wohnung vorbereiten. Die ehemaligen Obdachlosen, 50 können aufgenommen werden, müssen ihre Wohnungen eigenständig renovieren, sind für Einkauf, Wäschewaschen und Saubermachen selbst verantwortlich. Doch alles geschieht unter der Aufsicht von SozialpädagogInnen – wenn die BewohnerInnen sie brauchen, sind sie da, wenn nicht, dann nicht. Eine Alternative zu der herkömmlichen Versorgung von Obdachlosen, denn „der Schritt von der Straße in die abgeschlossene Wohnung ohne Zwischenstufe ist für viele Menschen einfach zu groß“, weiß die bündnisgrüne Sozialstadträtin Martina Schmiedhofer.

Doch dieses Projekt, die letzte Stufe vor der absoluten Selbständigkeit, können nur Obdachlose erfolgreich bewältigen, die relativ kurz – höchstens drei Jahre – auf der Straße gelebt haben. Bei denen, die jahrelang keine eigene Wohnung hatten und bestenfalls in Pensionen unterkamen, ist die Integration sehr viel schwieriger und langwieriger. Sie befinden sich häufig in einem Teufelskreis: Pension, Straße, eigene Wohnung, Straße, Pension.

„Die landläufige falsche Vorstellung von Obdachlosigkeit ist immer noch, wegen Mietschulden aus der Wohnung zu fliegen und dann keine neue Wohnung mehr zu finden und deswegen auf der Straße zu bleiben“, sagt die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Der Wohnungsmarkt sei mittlerweile so entspannt, daß „Wohnwillige gut untergebracht werden können“, sagt auch Sozialstadträtin Schmiedhofer (Bündnis 90/ Die Grünen). So sind von dem „geschützten Marktsegment“ für Obdachlose nur 1.600 Wohnungen vergeben. Insgesamt sind es aber 2.000 Wohnungen, die Wohnugsbaugesellschaften anbieten.

Im dritten Quartal dieses Jahres gab es 9.435 in den Sozialämtern registrierte Obdachlose. Die Dunkelziffer liegt aber um 2.000 bis 4.000 höher. Dazu kommt die versteckte Wohnungslosigkeit, also der kurzfristige Unterschlupf bei FreundInnen und Bekannten. Hier von sind insbesondere Frauen betroffen, die häufig „Zwangspartnerschaften“ eingehen, um ein Obdach zu finden.

Den meisten Langzeitobdachlosen sei, so Junge-Reyer, nicht damit geholfen, sie „nur“ mit Wohnraum zu versorgen – sie bräuchten viel mehr. Zum Beispiel als Übergangslösung Wohngemeinschaften mit sozialpädagogischer Betreuung. In der Hauptstadt gibt es immerhin 1.350 betreute Wohnplätze für ehemals obdachlose Erwachsene. Das eigentliche Problem liege, so der sozialpolitische Sprecher der bündnisgrünen Fraktion im Abgeordnetenhaus, Michael Haberkorn, aber in der Anfangszeit des eigenständigen Wohnens nach der Obdachlosigkeit. „Hier gibt es ein strukturelles Defizit“, bemängelt Haberkorn. Die Erstbetreuung durch SozialpädagogInnen und PsychologInnen in der eigenen Wohnung sei völlig „unterbelichtet“. Hier entstehe wegen mangelnder Beratung eine hohe „Durchlaufquote“, so daß viele Obdachlose nach kurzer Zeit wieder auf der Straße landeten, da sie mit einem Leben in der Wohnung nicht zurecht kämen.

Er kritisiert, daß keine Statistik mehr über die Ex-Obdachlosen geführt werde, wenn sie eine Wohnung bezögen. Haberkorn fordert deshalb eine „hauswirtschaftliche Beratung“ für mindestens ein halbes Jahr, wo den ehemaligen Obdachlosen beigebracht werde, wie man ein Leben organisere: Einkauf, Kochen, Putzen, Behördengänge und ganz wichtig: der Aufbau von sozialen Kontakten. „Eine solche Betreuung gibt es in Berlin erst sehr vereinzelt“, sagt Haberkorn.

Von sozialpädagogischer Betreuung hält Michael, Mitarbeiter bei der Obdachlosenzeitung motz dagegen nicht so viel: „Mit den Sozialarbeitern geht es meistens schief“, hat er erfahren. Denn Obdachlose seien Menschen mit „starkem Eigenwillen“, die sich nicht gerne betreuen lassen würden. Sein Konzept, den Teufelskreis Straße, Pension, Wohnung, Straße zu durchbrechen, heißt Selbsthilfe.

„Man kann den Obdachlosen nicht helfen, sie können sich nur selbst helfen“, glaubt er. Das gilt auch für den Drogenentzug: „Fast alle, die auf der Straße leben, sind abhängig“. Sein Projekt scheint durchaus erfolgversprechend: Rund 70 Menschen verkaufen nach Angaben von May derzeit die motz, die meisten von ihnen sind abhängig: Junkies, Spielsüchtige, Kokser. Außerdem hat die motz einen Entrümplungsservice geschaffen, in der Zossener Straße gibt es außerdem ein Recycling- Kaufhaus.

In Mitte eröffnete die motz- Crew vor zwei Wochen ein neues Wohnprojekt, 30 Plätze für DauerbewohnerInnen und zur Notübernachtung – alles ohne staatliche Unterstützung. „Insgesamt finden bei uns rund 100 Menschen eine Beschäftigung und somit eine Perspektive“, sagt May.

Doch nicht für alle ist Selbsthilfe der einzige Weg: Birk Valentin ist froh, daß er jetzt Sozialarbeiter hat, die sich regelmäßig um ihn kümmern. „Jetzt kann ich endlich mal quatschen“, sagt er und grinst. Und wenn es ihm zuviel wird mit dem „Probewohnen“, dann geht er ganz einfach „spazieren“, wie er es nennt. Zu seinen Kumpels an den Savignyplatz.