Spätkauf

■ Gericht in Nürnberg

November 1945. „Scheint, hier ist es 'n bißchen drunter und drüber gegangen“, meint recht salopp ein junger amerikanischer Flieger. „Je mehr ich sehe, desto mehr hasse ich die Krauts, daß sie uns gezwungen haben, das zu tun“, ruft ein anderer amerikanischer Soldat. Mit ihnen unterwegs ist, im Auftrag der Zeitschrift LIFE, John Dos Passos: Amerikaner unter Amerikanern. Dos Passos kommt der deutschen Bevölkerung nie wirklich nahe. Er bleibt im Kreis der Militärs und berichtet, was man ihm, der kein Deutsch kann, kolportiert. Die Geschichten vom Schwarzmarkt, von vergewaltigenden Russen, von „fragebogenden“ US-Verwaltungen wirken heute, da seine Reportagen erstmals auf deutsch erscheinen, wie Variationen auf Erzählungen aus dem Kollektivrepertoire. Und doch ist Dos Passos ein genauer Beobachter, etwa, wenn er einen Reiseführer beschreibt, der in Frankfurt vor den Trümmern des Römer steht und mit weitausholenden Gesten die Herrlichkeit des Gebäudes beschreibt, als wäre es völlig unzerstört. In sparsamen, präzisen Strichen skizziert Dos Passos die Eröffnung des Nürnberger Prozesses. Da sind nun die Gesichter aufgereiht, die man aus der Weltpresse kennt. Ribbentropp: „ein beim Schwindeln ertappter Bankkassierer.“ Schacht: „ein wütendes Walroß“. Hess: „zusammengesunken wie im Koma“. Göring: mit dem „unverschämten Gesichtsausdruck des ehemaligen Säufers“. Ihre Taten erwähnt Dos Passos nicht direkt. Es genügt ihm, das Entsetzen in der Stimme der Dolmetscherin zu beschreiben. Obwohl Dos Passos die Souveränität des Anklägers Robert Jackson bewundert, läßt er einen Osteuropäer an diesem Versuch, Gerechtigkeit zu demonstieren, zweifeln. War die Bombardierung Dresdens nicht auch ein großes Verbrechen? Dos Passos kommt zu einem bitteren Resümee, wenn er über die Arbeit der alliierten Verwalter in Berlin-Schöneberg notiert, sie lebten in einer „Traumwelt aus internationalen Konferenzen“. Den Russen gegenüber, Menschen mit „Kuhaugen und dem weiten Blick der Steppe“, ist Dos Passos von ungnädiger Unfreundlichkeit. Einst selbst Kommunist, wandelte er sich, mit der Erfahrung des Spanischen Bürgerkrieges im Rücken, zum Antistalinisten und unterstützte in den 50er Jahren McCarthys Untersuchungsausschüsse. 1945 stand Dos Passos etwa in der Mitte dieser Wandlungsbewegung vom Kommunisten zum Republikaner. Das macht seine Reportagen in beide Richtungen unbestechlich. jöm

John Dos Passos: „Das Land des Fragebogens“. Aus dem Amerikanischen von Michael Kleeberg. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/ Main 1997, 140 S., 34 DM