Eine Krankheit, die es für viele Ärzte gar nicht gibt

■ Wer gegenüber chemischen Stoffen empfindlich ist, gilt oft als Ökochonder. Doch an MCS, der Multiple Chemical Sensitivity, leiden inzwischen ein bis zwei Prozent der Deutschen

Die Auseinandersetzung um das Krankheitsbild Multiple Chemical Sensitivity (MCS) gleicht fast schon einem Glaubenskrieg. Viele Schulmediziner weigern sich strikt, die Vielfache Chemikalienempfindlichkeit als eine Krankheit anzuerkennen. Ist bei den oftmals schwer leidenden Patienten keine eindeutige Ursache für ihre Beschwerden feststellbar – erhöhte Konzentration von Schadstoffen im Blut oder den Organen etwa – laufen sie Gefahr, vom Arzt als „Ökochonder“ abgestempelt zu werden. Unmißverständlich äußerte sich dazu etwa der Freiburger Medizinprofessor Herbert Renner vor einiger Zeit im Deutschen Ärzteblatt: „Nicht die geringen Mengen chemischer Stoffe sind für die MCS-Erkrankung verantwortlich, sondern eine irrationale Umweltideologie, die glaubt, unverständliche chemische Formeln als Menetekel an die Wand malen zu müssen, und dabei Ängste auslöst, die sich in somatischen Störungen manifestieren.“

Doch auch gutmeinende Ärzte stehen häufig ratlos vor ihren Patienten. Weder bei den Ursachen noch bei der Diagnose der Chemikalienempfindlichkeit können die Mediziner auf Standards zurückgreifen. Für MCS gibt es bisher keine allgemein akzeptierte Definition.

Als Auslöser von MCS kommt eine ganze Palette von Umweltschadstoffen in Frage: Abgase aus Industrieanlagen, Ausdünstungen von Baumaterialien oder Möbeln, Farben, Pestizide, Tabakrauch oder die zahllosen Inhaltsstoffe von Konsumgütern, selbst Medikamente und eben auch verrottende Waffen stehen unter Verdacht.

Als „häufig geäußerte Beschwerden“ führt der Ulmer Professor Hans Joachim Seidel vom Institut für Arbeits- und Sozialmedizin in seinem Buch „Umweltmedizin“ auf: Atemwegsprobleme, Kopfschmerzen, Müdigkeit, grippeähnliche Symptome, Verwirrtheit, Verdauungs- und Herz-Kreislauf-Probleme, Irritationen der Haut, Reizbarkeit und Depressionen. „Die meisten Betroffenen“, so Seidel, „nennen mehr als ein Symptom.“

Vermutet wird, daß MCS nicht nur durch die chronische Einwirkung einer geringen Giftdosis ausgelöst werden kann, sondern auch dann, wenn der Betroffene nur kurzzeitig einer hohen Dosis ausgesetzt ist. Meist reagiert er zuerst nur auf eine bestimmte Chemikalie, die Empfindlichkeit kann sich dann aber auch auf andere Substanzen ausweiten, „bis hin zu einer Unverträglichkeit für natürliche Lebensmittelinhaltstoffe“, erläutert der Ulmer Arbeitsmediziner.

Auf ein bis zwei Prozent der Bevölkerung wird die Anzahl der Betroffenen geschätzt, die unter einem der MCS-Symptome leiden. Eine – jedoch von den Wissenschaftlern bisher nicht belegte – Hypothese geht davon aus, daß die Chemikalien eine Störung des Immunsystems bewirken, die bei den Erkrankten dann zu einer Überempfindlichkeit führt. Ungeklärt ist auch, warum weitaus mehr Frauen als Männer an der Krankheit leiden. Wolfgang Löhr