: Eierpunsch und aufrechter Gang Von Karl Wegmann
„Alle Jahre wieder“, jammert Hermann, „lange bevor die echte Völlerei losgeht, hab' ich mir schon den Magen verdorben. Diese ganze Feierei, Eierpunsch und Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, Einkaufstreß, ich kann euch sagen, das frißt faustgroße Löcher in meine Magenschleimhaut, und meine Verdauung geht den Bach runter!“ Dann nimmt er einen großen Schluck Kamillentee.
Alle nicken verständnisvoll, nur Willy nicht. „Das kommt vom aufrechten Gang“, sagt er. Die ganzen „Hähs?“, „Wiesos?“ und „Wat is' los?“ waren natürlich berechnet, denn jetzt kann er richtig loslegen. „Es ist ein Mysterium, daß der Mensch auf seinen Hinterbeinen läuft“, behauptet Willy, „denn das führt zahlreiche Komplikationen mit sich, wie etwa Krampfadern, Hämorrhoiden, Ischias, Blutdruckschwankungen und Verdauungsbeschwerden. Gemäß einer rein anatomischen Logik müßten wir auf allen vieren gehen.“ Hermann lächelt gequält. „Du glaubst wohl, wenn ich auf allen vieren über den Weihnachtsmarkt gekrabbelt wäre und Eierpunsch aus einem Trog gesoffen hätte, dann...“ Willy unterbricht ihn: „Ich gebe zu, nach menschlicher Logik erschiene das etwas befremdlich...“ „Befremdlich, ja das könnte man durchaus sagen“, meint Hermann. „Nun ja“, kontert Willy, „diese intellektuellen Spiele mögen banal erscheinen – aber wer hat denn nun als erster die Idee gehabt, sich auf seinen Hinterbeinen aufzurichten? Und warum?“ „Das war derjenige, der als erster eine Kneipe betrat“, meint Hermann, „der Typ kommt reingekrabbelt, sieht dieses wunderschöne Ding, das man Tresen nennt, und prompt erhebt er sich, um ein Pils zu ordern.“ „So muß es gewesen sein“, unterstützt Konscho ihn, „oder aber der Mensch erhob sich, um seine Hände frei zu haben, damit er Aldi-Tüten schleppen kann.“
Willy wird sauer. Ich versuche, die Situation zu entschärfen. „Ich glaube, eines Tages wollte ein Mensch weit über die Savanne hinweg schauen“, sage ich. Hermann und Konscho kichern nur noch. Willy ignoriert sie und sagt zu mir: „Die schlichte Tatsache, diese Hypothese aufzustellen, impliziert schon, daß die Sinnesausstattung des Menschen leistungsfähig im Bereich des Sehens und mittelmäßig im Bereich des Geruchs war. Das wissen wir aber nicht...“ Hermann und Konscho lachen sich scheckig. „Der Mann erhob sich, um endlich im Stehen pinkeln und die Frauen damit in den Wahnsinn treiben zu können“, prustet Konscho. „Genau!“ ruft Hermann. „Und außerdem kann man auf allen vieren nicht Fußball spielen.“ Willy wird energisch. „Das Abenteuer der Zweibeinigkeit...“, fängt er ruhig an, verhaspelt sich dann und schreit: „Ihr blöden Idioten wollt nicht kapieren, daß ein anscheinend so einfaches Bewegungsmuster wie der aufrechte Gang trotzdem ein Lehrmodell benötigt!“ „Na prima“, brüllt Hermann, „ich sag dir was, Konscho und ich werden uns jetzt auf unsere Hinterbeine erheben, in die Küche gehen und ein großen Topf Eierpunsch machen. Euch beiden Forschern werden wir das Zeug in einem Napf auf dem Boden servieren, dann könnt ihr das Lehrmodell in Ruhe durchspielen...“
Ich konnte Willy nur mit äußerster Mühe davon abhalten, eine kriminelle Handlung zu begehen, die den Tatbestand der schweren Körperverletzung erfüllt hätte.
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