Blauspechte auf dem Weg zur Gartenwirtschaft

■ Zwischen 1860 und 1883 malte Adolph Menzel farbenprächtige Tier- und Alltagsszenen. Der Erlös des „Kinder-Albums“ sollte vor allem den Kindern seiner Schwester zugute kommen

„Alter! mit dem Allerwelt-Titular-Onkel hat's seit heute Mittag 3/4 auf zwei ein Ende“, schrieb Adolph Menzel am 6. Mai 1860 voller Stolz und Freude an seinen Potsdamer Freund Wilhelm Puhlmann, „ich bin nun wirklicher, und d.h. einer recht stimmbegabten und also wahrscheinlich -berechtigten Nichte.“

Eine eigene Familie hat Menzel nie gehabt. Um so enger war das Verhältnis zu seiner Schwester Emilie und deren Mann, dem Komponisten und späteren königlich-preußischen Musikdirektor Hermann Krigar. Nicht nur, daß die drei sich eine Wohnung teilten; Menzel, der nach dem frühen Tod des Vaters den Lebensunterhalt für die Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister verdient hatte, seit er sechzehn war, sorgte sich auch in besonderem Maß um die Zukunft von Emilies Kindern Margarethe und Otto.

Die Resultate dieser Fürsorge hat nun der Berliner Nicolai-Verlag erstmals komplett in einem Band versammelt: Ursprünglich beinhaltete Menzels zwischen 1860 und 1883 entstandenes „Kinder- Album“ dreiundvierzig Gouachen und ein Aquarell, drei der Pinselzeichnungen werden heute als Kriegsverlust geführt – macht einundvierzig im aufwendigen Duotoneverfahren gedruckte Farbabbildungen und damit insgesamt ein Bilderbuch, das dem Genre zu aller Ehre gereicht.

Menzel wählte für das Margarethe und Otto Krigar zugedachte Album vor allem Tiermotive aus, aber auch kleine Szenen, die er auf seinen alltäglichen Besorgungsgängen gesehen hatte und später im Atelier ausarbeitete. In Blättern wie „Die liegende Kuh im Stall“, „Der Blauspecht im Laub“, „Die zwei Schwäne“ oder „Die Gartenwirtschaft ,Moritzhof‘“ zeigen sich zwei Grundbestandteile seiner Kunst: genaue, dabei dem Satirischen nicht abgeneigte Beobachtungsgabe sowie eine ausgeprägte Vorliebe für ungewöhnlich enge Bildausschnitte und gewagte Perspektiven.

Und es fällt nicht schwer, sich die Reaktionen der kindlichen Adressaten auf das jährlich wachsende Konvolut vorzustellen, so farbenprächtig, wie die meisten Bilder wirken. Gleichzeitig kann man bei den Themen durchaus eine Entwicklung feststellen, zumindest scheint die Darstellung des „Emus“ aus heutiger Sicht kindgerechter als der wilde „Yak- Stier im Bambus“ oder etwa die „Ratte im Rinnstein“. Ob dies mit dem zunehmenden Alter der Beschenkten zu tun hat, ist allerdings nicht sicher. Die Originale, die sämtlich im Berliner Kupferstichkabinett aufbewahrt werden, sind undatiert und in ihrer Chronologie schwer zu bestimmen.

Wie überhaupt Menzels Nichte und Neffe, anders als man das vielleicht denken mag, die einzelnen Werke nicht wirklich besessen haben. So betrachtet war Menzel durch und durch Pragmatiker: Nicht die Bilder selbst gehörten den Kindern, es war ihr Erlös, der ihnen einmal zugute kommen sollte. Er hatte sich nicht verrechnet. Im Juli 1883 notierte er in sein Kassenbuch: „Anzahlung von [dem Kunsthändler Hermann] Paechter f.d. ,Kinder-Album‘ 9.000 Taler“. Im Jahr darauf wurden die Blätter auf den großen Menzel-Ausstellungen in Berlin und Paris gezeigt und schließlich von der Berliner Nationalgalerie erworben, wie sich in dem kundigen Vorwort von Marie Riemann-Reyher, Kustodin am Kupferstichkabinett, nachlesen läßt. Ulrich Clewing

Adolph von Menzel: „Das Kinder- Album“. Herausgegeben von Marie Riemann-Reyher. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1997. 108 Seiten, 68 DM