■ Der Weihnachtsmann hat Konjunktur – das Christkind ist out. Das ist kein Wunder in unseren konsumbesoffenen, kinderfeindlichen Zeiten
: Das Christkind als Briefbombe

Ihr Kaufdummis kommet, oh kommet doch all, / Zur Shopping Mile kommet, in Weihnachtsmanns Stall, / Und seht, was in dieser unheiligen Nacht / Der Vater im Himmel für Umsatz gebracht.

Ja, so sängen Santa Claus in der roten Jacke und sein Rentier mit der roten Nase, wenn sie denn rot gesinnt wären; sind sie aber nicht.

Der Weihnachtsmann ist außer Kitsch gar nichts. Das von ihm wegkonkurrenzierte Christkind ist außer Kitsch immer noch sonst was; widervernünftig, verdächtig, eine Beleidigung der irreligiösen Gefühle.

Religion und Kitsch haben das Gemeinsame, daß sie den guten Geschmack gegen sich empören. Alles Religiöse hat etwas Kitschiges an sich. Aller Kitsch hat Tiefe, von welcher der Feingebildete nichts wissen will, weil Tiefe nicht geschmackvoll ist.

Wenn schon Kitsch, dann bitte gleich das liebe Jesulein und nicht der blödsinnige Weihnachtsmann.

Daß in Zeiten der Globalisierung und Arbeitslosierung arme Teufel in Weihnachtsmannkluft ein paar kalte Mark verdienen, ist die soziale Seite der Weihnachtsmännerei. Was wäre dagegen einzuwenden? Gar nichts. Was bleibt, ist die deutsche Volkskunde. Sie verkündet das europäische Christkind und verdammt den amerikanischen Weihnachtsmann.

Volkskundemuseen sind Leichenhallen, worin zahllose Christkindel in wunderbaren Krippen aufgebahrt sind. Doch siehe, im erzkonservativen Wien zeigt das örtliche Volkskundemuseum, außer wunderbar traditionelle Krippen, auch widerständige Werke des Kärtner Jungkünstlers Fritz Russ, darunter einen alten Blechkoffer zur Aufbewahrung von Dynamit. Öffnet man die Dynamitkiste, so liegt drin ein gekreuzigter Christus: Naivität der Volkskunst, transformiert in die Raffinesse einer postmodernen Installation. Zynisch, aber nicht bösartig, sondern tief.

Die Phantasie, einmal in Gang gesetzt, kann sich ausmalen: Die Dynamitschachtel wird mit der Post verschickt, und drin tickt Jesus Christus als Briefbombe.

Wer das Dynamitpaket öffnet, wird verletzt: der Traditions- Christ, weil Christus doch nicht in eine Dynamitkiste gehört; der postmoderne Christ, weil er von der Idee des Künstlers getroffen ist: statt Christkind in Krippe auf Stroh, erwachsener Christus als Sprengkörper. Karl Marx, variiert: Religion ist Dynamit des Volkes. Schön wär's.

Zufall ist gar nichts. Der Soziologe strebt nach Erklärung, der Mythologe erst recht. Also, wie kommt es, daß der Weihnachtsmann ein bull market ist, das Christkind ein bear market? Mir ist vor allem der Widerstand wichtig, gleich entrolle ich mein Transparent: „Raus, raus, Santa Claus; rein, rein, Christkindlein!“

Ich habe natürlich auch eine soziologische Erklärung: Nicht nur das Christkind stürzt ab in den Charts, sondern das Kind überhaupt. Wir haben, entgegen allem offiziellen Wischiwaschi, eine kinderfeindliche Gesellschaft. Der Weihnachtsmann, inhaltsleer, außer als Dealer für Kaufräusche, paßt einfach besser.

Das Christkind ist ganz daneben. Jedes Kind ist göttlich, und Gott ist am göttlichsten als Kind. Was soll denn das?

Das Kind, Symbol der Göttlichkeit, ist eine Peinlichkeit in einem Zeitalter, da „alles Gefühl in bare Zahlung verwandelt ist“ (Karl Marx schon 1848). Der Zeitgeist heißt Zeitgeist, weil er keine Zeit für Geist hat, er ist der „Geist geistloser Zustände“ (gleichfalls Marx, nur viel ärger, als er's je meinte).

Das Jammern über die schlechten Zeiten schafft eine gemütlich lauwarme Stimmung, in der dann hinterrücks die Hoffnung auftaucht, daß es so arg schon nicht werden wird. Bis dahin läuft es auf zweierlei hinaus.

Zweitens: Kinder sind eine bleierne Last in der Schlacht um Wohlstand oder wenigstens Existenz.

Erstens: Kinder sind auf dem Globus nicht erwünscht, auf dem es schon zu viele Menschen gibt.

Daß zur Jahrtausendwende, die Menschen hauptsächlich überflüssig werden, ist mehr als eine Jahrtausendwende. Es ist die Wende aller bisherigen Jahrtausend. Geschichte hieß immer: Um Geschichte zu machen, braucht die Menschheit Menschen. Möglichst viele Bauern, die Nahrung schaffen; möglichst viele Arbeiter; möglichst viele Soldaten als Naturdünger, um Reiche zu bauen, zu zerstören, neue zu bauen. Der Unterbau aller Weltgeschichte war das Kindermachen. Alle Zeiten waren kinderfreudige Zeiten.

Alles falsch, erstmalig. Dank der Wissenschaft braucht die Menschheit immer weniger Menschen, um immer mehr zu produzieren; immer weniger Soldaten, um immer mörderischere Kriege zu führen; immer weniger Sozialstaatsbürger, um ihnen immer mehr Sozialstaat wegzusparen.

Kindermachen ist ökonomischer Unsinn; und um so kinderfeindlicher wird die durchökonomisierte Gesellschaft.

Der Unfug des Kindermachens ist nicht nur ökonomisch verboten, sondern auch biologisch. Der liebe Gott wird böse, er behandelt die Menschen wie weiland die Kaninchen in Australien. Wird die Population zu groß, kommt die Myxomatose und dezimiert sie; gibt es wieder genug wenig Kaninchen, hört die Seuche auf.

Natürlich wird die Menschheit mit allen Menschheitsseuchen fertig. Kommen neue, wird sie mit diesen neuen wieder fertig. Das Spiel heißt „Errungenschaften der Medizin“ usw. Es geht immer weiter, zur wahren Freude der Pharma-Industrie usw.

Überdies werden bei den MenschInnen die Eier immer runzliger und die Samen immer schlapper. Die Menschheit entsexualisiert sich. Zwar wird der mediale Sexualismus immer üppiger, aber der reale verkümmert. Statt des guten alten Reinrausspiels zappen wir asketisch auf dem TV-Diwan.

Wollen wir voll Unvernunft partout ein Kind kriegen, verheiraten uns die In-vitro-Priester in der Kathedrale des flüssigen Stickstoffs.

Kindermachen und Massenabtreibung werden identisch. Die überflüssigen In-vitro-Homunculi werden in den Kübel geschmissen. Oder, ökonomischer, wir vernutzen sie als wertvollen Menschlein- Brei in Pharmazeutik, Kosmetik, zu sonstigen humanen Zwecken.

Der Mann unserer Zeit ist der Weihnachtsmann: alt, asexuell, impotent und überhaupt ein Humbug. Folglich gehört ihm die Zukunft, in der alles immer mehr so wird, wie es schon ist. Erst die Zukunft, in der alles anders wird, die Zukunft nach der Zukunft – erst die gehört dem Christkind.

Oh Gott, welche Chancen hat denn da das Christkind? Natürlich gar keine. Es kommt einfach. Günther Nenning