Absturz im Gefecht der Phantom-Flugzeuge

Endbericht zum Flugzeugabsturz von Ustica: Spurenverwischung, genarrte Lotsen und mysteriöse Todesfälle  ■ Aus Rom Werner Raith

Vier Ermittlungsrichter haben sich an dem Fall die Zähne ausgebissen; ein Dutzend hoher Offiziere bis zur Generalität muß wegen Irreführung der Behörden mit Haftstrafen rechnen, und mehr als ein Dutzend mysteriöser Todesfälle säumen den Gang der Ermittlungen. Nun soll der abschließende Bericht von Staatsanwalt Rosario Priore endlich justizielles Licht in eine der mysteriösesten Tragödien Italiens bringen: den Absturz einer DC-9-Linienmaschine der Fluggesellschaft Itavia über der Mittelmeerinsel Ustica, bei dem am 27. Juni 1980 alle 81 Insassen ums Leben kamen.

Die Passagiermaschine war am kurz nach 20 Uhr von Bologna aus in Richtung Palermo gestartet. Sie hatte zwei Stunden Verspätung, weil im letzten Moment noch Zuladungen erfolgten. Um 21.04 Uhr, kurz nach dem Überfliegen der Pontinischen Inseln südlich von Rom, verschwand das Flugzeug plötzlich vom Radarschirm. Erst am folgenden Morgen wurden Wrackteile und Leichen aus dem Meer vor der Insel Ustica geborgen. Die Behörden kamen zu dem Ergebnis, Materialermüdung habe zu der Katastrophe geführt.

Dem widersprach im Herbst 1980 die Itavia: Ihrer Ansicht nach sei die Maschine durch Fremdverschulden abgestürzt. Und prompt änderten die Behörden ihre Version des Unglücks. Eine Bombe sei an Bord explodiert, erklärten sie – möglicherweise um einen mitgeflogenen Rechtsextremisten umzubringen. Der war aber, so zeigte sich, gar nicht dabei.

Zu diesem Zeitpunkt wurden die Angehörigen der Opfer argwöhnisch, auch hatten einige Journalisten Lunte gerochen. Einer von ihnen hatte noch in der Nacht des Absturzes einen mysteriösen Anruf bekommen, wonach die DC 9 möglicherweise von einer verirrten Rakete während eines Nato-Manövers getroffen worden sei. Doch hartnäckig behaupteten Italiens Militärs ebenso wie ihre Geheimdienste, die Vereinigten Staaten, Frankreich und die Nato, „sämtliche Flugzeuge“ seien am Boden, alle Raketen in den Hangars gewesen – eine Behauptung, die sie bis 1992 aufrechterhielten.

Doch immer wieder berichteten Personen, die seinerzeit nahe am Geschehen waren, die DC 9 sei abgeschossen worden – was ihnen nicht gut bekam. Mehr als ein Dutzend solch vorlauter Menschen starben jeweils wenige Tage nach ihren Äußerungen. Der spektakulärste Fall war der zweier Piloten der Kunstflugstaffel „Frecce tricolori“, die 1988 bei einer Flugschau in Ramstein abstürzten (70 Tote). Die beiden sollten wenige Tage nach der Schau vor dem damaligen Untersuchungsführer Bucarelli aussagen.

Der hatte eine Verzeichnis der Flugbewegungen am Unglücksabend gefunden – und darauf standen die Namen der Piloten mit dem Vermerk „Abfangaktion“. Staffelsolist Nutarelli von den „Frecce“ hatte angekündigt, er wolle aussagen. Es wäre die erste Bresche in der Mauer des Schweigens gewesen.

Erst als der Fall 1991 Rosario Priore übertragen wurde, einem in Terrorismusfällen erprobter Haudegen, kam Bewegung hinein. Fast das gesamte Wrack wurde aus 3.000 Metern Tiefe gehoben; die Flugschreiber wurden gefunden und entschlüsselt – auf ihnen der Ausruf „Ma guard...“ als letzte Worte des Piloten, die „Schau da...“ bedeuten.

Priore setzte seinen ganzen Ehrgeiz darein, auch nicht die geringste Spur zu übergehen. Daraus resultierte die überlange Ermittlungszeit von sieben Jahren. Zäh stupste er Politiker an, endlich Kopien der sofort nach dem Unglück beschlagnahmten und im Original teilweise vernichteten Radaraufzeichnungen herauszugeben. Klug übte er über die Presse Druck auf die Nato aus, ihr Schweigen zu brechen. Nur teilweise ist es ihm gelungen, die Beweismittel lückenlos aufzutreiben, doch sein Bericht bietet mehr als genug Stoff für ein Dutzend Geheimdienstkrimis.

Nun ist klar, daß am 27. Juni im Gebiet zwischen Palermo und Neapel mindestens dreißig Militärflugzeuge unterwegs waren. Erste große Neuigkeit in dem Bericht: Die Jäger hatten allesamt ihr Freund-Feind-Erkennungssignal ausgeschaltet, um ihre Identifizierung unmöglich zu machen. „Am Himmel flog ein ganzes Geschwader von Phantomen herum“, sagt Priore. Auch hinter der DC 9 befand sich ein Flugzeug, das sich so vor dem Radar zu verbergen suchte.

Neuigkeit Nummer zwei: Die Maschine hatte offenbar zuvor ein anderes Flugzeug, das aus Bergamo kam, als Schutzschild benutzt. Kurz vor dem Absturz näherten sich zwei weitere Flugzeuge der DC 9, und auch hier hat Priore eine Neuigkeit zu vermelden: Eines dieser Flugzeuge scherte plötzlich aus und flog in spitzem Winkel wieder auf die DC 9 zu – „das klassische Manöver zum Abschuß einer Rakete“, wie der amerikanische Militärexperte John Transue befindet.

Daß die DC 9 einer Rakete zum Opfer fiel, hat Priore durch Gutachten mittlerweile erhärtet. Seine vierte und wahrscheinlich explosivste Neuigkeit: Nach der „Schlacht“ entfernten sich mehrere Maschinen eiligst in Richtung Nordosten, um dann nahe Korsika zu landen – auf einem Flugzeugträger. Das bedeutet, daß damals die Franzosen ebenfalls im Unglücksgebiet anwesend waren – was diese allerdings bis heute verbissen leugnen.

Bis hierhin legt sich Priore so fest, daß er Anklagen gegen alle erheben kann, die bei der Spurenverwischung mitgeholfen haben. Das gilt auch für die unbekannten Todesschützen, und obwohl sich wegen des internationalen Territoriums, über dem die Maschine abgestürzt ist, Probleme ergeben. Nur höchst vage äußert der Ermittler sich sich dagegen über den Grund für das „Phantome-Manöver“.

Sicher ist, daß damals der lybische Staatschef Gaddafi im Übungsgebiet erwartet wurde, auf dem Weg zu einer Konferenz in Warschau, und daß während dieser Reise in seinem Land ein Putsch stattfinden sollte. Gesichert ist aber auch, daß Israels Geheimdienst die DC 9 im Verdacht hatte, bei der „Zuladung“ spaltbares Material für arabische Staaten nach Palermo zu bringen.

Priores Fazit: „Wir wissen nun, daß das Flugzeug abgeschossen wurde. Wir wissen auch, daß dies im Rahmen eines Nato-Manövers geschah – aber wir wissen nicht, wer den Knopf drückte, der die DC 9 vom Himmel holte.“