Boris Jelzin kehrt zurück in den Kreml. Gegen den Rat der Ärzte will der russische Präsident heute das Sanatorium verlassen. Jelzins Krankheit läßt die Frage nach einem Nachfolger immer dringender erscheinen. Rußland steht an einem Scheideweg Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Ein kränkelnder Garant

Pünktlich zum Wintereinbruch holte sich Boris Jelzin eine Infektion der Atemwege. Die Präsidialkanzlei hatte alle Hände voll zu tun, um Gerüchten einer ernsthaften Erkrankung des anfälligen Kreml-Chefs entgegenzuwirken. Sie erledigte ihre Aufgabe nicht gerade überzeugend. Sorgte für Verwirrung und erneute Spekulationen.

Unterdessen versetzte die Nachricht, der Präsident sei wieder unpäßlich, in Rußland kaum jemanden in Unruhe. Business as usual. Im Gegenteil, die Medien fahren sogar fort, eine dritte Kandidatur Jelzins um das Präsidentschaftsamt zu diskutieren. Ein Beweis dafür, daß der kränkelnde Kreml-Zar in den Augen der politischen und wirtschaftlichen Elite der einzige ernstzunehmende Garant der Stabilität bleibt. Seine reine körperliche Präsenz und ein gelegentliches Machtwort reichen aus, um das Staatsschiff nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Selbst die aufsässige Opposition aus Kommunisten und Nationalisten in der Staatsduma, nie verlegen, den Kreml-Chef herauszufordern, zähmte Jelzin durch kleine Zugeständnisse und bewog sie, dem Haushalt für 1998 zuzustimmen.

Zweieinhalb Jahre bleiben noch bis zu den Präsidentschaftswahlen, ein ernsthafter Herausforderer hat die politische Bühne noch nicht einmal betreten. Potentielle Mitbewerber wie Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow und Premierminister Wiktor Tschernomyrdin halten sich übervorsichtig im Hintergrund, solange der Präsident seine Absichten nicht kundgetan hat. Währendessen büßt Vizepremier Boris Nemzow, den Jelzin im Frühjahr schon zum neuen Hoffnungsträger der Enkelgeneration erkoren hatte, zunehmend an Popularität ein. Öffentliche Unterstützung hat Jelzin ihm schon lange nicht mehr gewährt.

Was nach außen wie das stabile Regime eines Patriarchen aussieht, der alle Fäden in der Hand hält, wirkt innenpolitisch indes eher lähmend. Im Frühjahr unternahm der gerade von seiner Herzoperation genesene Kreml-Chef noch einmal einen Versuch, einen Reformschub zu wagen. Als Symbolfiguren ernannte er den Vorzeigereformer Anatoli Tschubais und Boris Nemzow zu stellvertretenden Vizepremiers. Ende des Jahres müssen beide eine höchst ernüchternde Bilanz ziehen. Die Reformen in der Armee, der kommunalen Hauswirtschaft und des Steuerwesens sind nicht vom Fleck gekommen. Im Gegenteil, der Staatshaushalt weist größere Löcher auf als zuvor. Der Verkauf der noch verbliebenen Filetstücke aus dem Staatseigentum, der die leere Staatskasse auffüllen sollte, wurde storniert. Die widerstreitenden Kapitalinteressen können sich nicht über den Zuschlag einigen.

Skandale und Intrigen haben die Arbeit der Regierung blockiert. Tschubais stolperte über einen Honorarskandal und verlor alle Minister aus seiner Reformmannschaft. Das Organisationstalent gehört mittlerweile zum Fußvolk und muß darum kämpfen, zum Präsidenten vorgelassen zu werden. Letzte Woche versetzte ihm Jelzin einen weiteren Schlag – zugegeben symbolisch. Mittels Dekret verfügte der Präsident, Tschubais müsse auf seinen Auslandsreisen die Dienste ziviler Fluggesellschaften in Anspruch nehmen. Gleichzeitig hob er eine Entscheidung des Vizepremiers auf, die vorsah, die Ölraffinerie Omsk wegen Steuerrückständen zu enteignen. Jelzin intervenierte persönlich, das Unternehmen erhielt noch eine Schonfrist. Mitaktionär der Ölfirma ist unterdessen Boris Beresowski. Tschubais kippte den Finanzmagnaten im Oktober von seinem Posten als stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates. Der Großmogul revanchierte sich postwendend und enthüllte die sogenannte Buchaffäre, über die Tschubais ins Stolpern geriet. Bereswski, dessen Vermögen auf drei Milliarden US-Dollar geschätzt wird, gab nicht auf. Er ist Rasputin II. am Hofe Jelzins. Die Präsidententochter Tatjana Datschenko, die ihren Vater offiziell berät, gehört zur Mannschaft des Finanziers, der auch die privaten Geschäfte der jungen Jelzin managt. Nicht zufällig leitet der Schwiegersohn des Präsidenten, Valeri Okulow, ein Unternehmen aus dem Beresowski-Imperium. „Er sitzt genau dort, wo sich Beresowski direkt aus der Staatskasse bedient“, meint ein junger Tschubais-Berater.

Unterdessen ließ auch Premierminister Wiktor Tschernomyrdin die Gunst der Stunde nicht ungenutzt. Rechtzeitig zu seinem fünfjährigen Jubiläum als Ministerpräsident bot sich ihm eine Möglichkeit, dem jungen, ungeliebten Reformer in die Flanke zu fahren. Im Streit um die Verstaatlichung der Omsker Raffinerie schlug er sich auf die Seite Beresowskis. Obgleich Tschernomyrdins Verbündeter, der Energiekonzern Lukoil, als ein direkter Konkurrent des Beresowskij-Konzerns im Kampf um die noch nicht veräußerten Anteile des staatlichen Ölkonzerns Rosnett auftritt.

Die liberalen Kräfte haben in den letzten Wochen eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Der heimliche Gewinner ist Wiktor Tschernomyrdin, dem der Sieg in den Schoß fiel. Sollte dem Präsidenten etwas zustoßen, wäre es der Premier, der die Staatsgeschäfte weiterführt und binnen drei Monaten Neuwahlen ausschreiben müßte.

Jelzin hielt über Jahre an seinem Premier fest. Er war es, der mit den oppositionellen Kommunisten in der Duma eine gemeinsame Sprache fand und daher unverzichtbar war. Nach fünf Jahren Amtszeit schaffte es der eher farblose Premier, die Interessen der alten und der neuen Nomenklatura endgültig miteinander zu versöhnen. Sogar Innenminister Anatoli Kulikow, der vor einem Jahr noch dafür plädierte, Banken und Großunternehmen zu verstaatlichen, ist jetzt mit von der Partie. Es schlug vor, einen Rat zu gründen, dem die größten Finanzgruppen und Industriellen des Landes angehören, um die Verteilungskämpfe ein für allemal friedlich zu lösen.

Rußland steht am Scheideweg. Will es sich für einen halbwegs zivilisierten Kapitalismus entscheiden oder in eine kriminelle Spielart nach lateinamerikanischen Vorbild abdriften? Bisher war es immer noch der Präsident, der in den Schicksalsmomenten seines Landes intuitiv die Notbremse gezogen hat. Im Moment scheint Jelzin indes beschäftigt, das Machtgefüge seiner Untergebenen aufzubrechen. Bisher war das die Garantie seiner unangefochtenen Herrschaft. Inzwischen geht es um mehr. Verliert der Präsident womöglich den Überblick?