Karl Heinz Martins expressionistisches Hell-Dunkel-Spiel erzählt von einer armen Seele, die ins reiche Leben zieht

Einmal mit beiden Händen ins pralle Leben greifen. Einmal Häkelbezüge, Kohlsuppendunst und von Krisen verhärmte Ehefrauen hinter sich lassen und ungebremst genießen, was die Einflüsterungen der Freizeitindustrie der 20er Jahre, vom Freudenhaus bis zu Spielhöllen, versprechen. Der arme, schlecht rasierte Kassierer gerät ins Schwitzen. Eine Gedankenflamme stößt in sein Hirn. Dann nimmt er die Kasse und verschwindet. Ein Vergehen, das auch Jahrzehnte später in Filmen wie Psycho seinen Delinquenten bald wie ein protestantischer Fluch im Nacken sitzt.

In Karl Heinz Martins Von morgens bis Mitternachts (1920), einer Verfilmung von Georg Kaisers gleichnamigem Drama, nimmt die Heimsuchung in Form von Schlaganfällen im Familienkreis ihren Lauf. Und während die Polizei ihr Fahndungsnetz dicht und dichter spinnt, zieht der Kassierer arglos aus ins große Leben. Mädchen umschmeicheln ihn, bieten sich an, tanzen um den Geldprasser. Doch was ihn eben noch appetitlich anlächelte, verkommt rasch zum blanken Schädel, und bald erscheint das ganze Vergnügen als schlecht geschminkte Maske eines unbarmherzigen Sensenmannes. Gesichter gerinnen zur Fratze, Äste mutieren zu Schlangen, und die arme Seele schwindelt zwischen Gier und Wahnsinn.

Ernst Deutsch gibt in der Rolle des Kassierers eine jener Gestalten, die im deutschen expressionistischen Film gebückt durch das Hell-Dunkel der flächigen Kulisse schlurfen. Ganz so, als habe sie etwas Übermächtiges im Vorbeigehen gewaltig zusammengestaucht. Kauzig sind sie, hysterisch im Schwärmen wie im Verzweifeln, ein Muster an Verklemmtheit und sozialem Futterneid. Von Dr. Caligaris somnambulem Cesare bis zum kindermordenden Triebtäter in M treiben diese Nachkriegsfiguren durch die Häuserhöhlen des Dekors. Und wenn sie ihre stets gekrümmten Rücken einmal durchstrecken, gerät das gleich zur theatralischen Ecce-Homo-Pose, zur Attitüde und Passion.

Alle Welt wird durch die expressionistische Filmkamera zum sinnleeren Gerüst, alles Leben zum heillosen Gerippe. Deswegen nennt Fritz Göttler diese Abteilung deutschen Kinos auch „erste Trümmerfilme“und seine skelettierte Bühne mitsamt ihrem deformierten Personal „eine antibarocke, eine protestantische, eine freudlose Kunst“.

Fragil und leicht zerstörbar sind die Helden, die der verlorene Krieg übrigließ, und Martins Kassierer ist einer der deutschen Beiträge zur lost generation.

Von morgens bis Mitternachts, der jetzt zum Fest im Metropolis gezeigt wird, war eine Low-Budget-Produktion. Fast alle, vom Bühnenmaler Neppach bis zu den Darstellern, arbeiteten zu dieser Zeit mit Martin auch in Inszenierungen auf Berliner Bühnen. Freunde, wie der Dichter Max Hermann und seine Frau Leni, hielten sich als Laienschauspieler zu Verfügung. Der Film wurde ein handfester Schocker. Schrill, skurril und unkonventionell. Von der zeitgenössischen Kritik wurde er geschmäht, zu einer offiziellen Aufführung kam es nicht. Erst später wurde Martins Tagesodyssee durch Schuld und Sühne in Japan gezeigt und dort, nicht zuletzt wegen seiner Nähe zum Kabuki-Theater, euphorisch beklatscht. Die Presse in Tokio war hingerissen und zutiefst gerührt darüber, daß Von morgens bis Mitternachts vor allem eines zeige: „das nackte menschliche Leben“. B.Glombitza

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