Kuhmilch für den kranken Mann

Zweimal zwei Stunden Theater, mal mehr gelungen, mal weniger: „Die Judith von Shimoda“ von Brecht im BE und Wendy MacLeods „The House of Yes“ in der Inszenierung von K. D. Schmidt am Maxim-Gorki-Theater  ■ Von Esther Slevogt

Zwei Premieren fanden am vergangenen Wochenende statt, beide, sowohl die am BE als auch jene im Studio des Maxim-Gorki- Theaters waren deutsche Erstaufführungen. Das BE zeigte „Die Judith von Shimoda“: ein reichlich matter Stückentwurf von Bertolt Brecht, stammt aus irgendeiner Schublade des Brecht-Archivs, wohin das Ganze garantiert schnell wieder verschwinden wird. Und das Maxim Gorki präsentierte „The House of Yes“, geschrieben 1990 von der amerikanischen Dramatikerin Wendy MacLeod und sicher nicht zum letzten Mal auf einer deutschen Bühne.

„The House of Yes“ steht in Washington. Die Kennedys wohnten nicht weit, und ihr Mythos strahlt nicht bloß in den Rest der Welt, sondern eben auch in die Villen der Nachbarschaft. Wir begegnen einer Frau im schwarzen Cocktailkleid, die aussieht wie Jackie O. und auch so genannt wird, es aber nicht ist, sondern eine schizophrene junge Frau, ein armes reiches Mädchen (glamourös, hysterisch und ziemlich authentisch: Anna Steffens).

Es ist Thanksgiving. Draußen tobt ein Hurrikan. Der Puter schmort im Ofen, die Familie wartet auf Marty, den Zwillingsbruder von Jackie O. (Till Weinheimer), der kurz darauf der Familie ein hübsches, nicht ganz standesgemäßes Wesen als seine Verlobte vorstellt (Regine Zimmermann mit engelsähnlicher Naivität). Die Mutter ist „not amused“, der jüngere Bruder dagegen hingerissen. Als dann der Strom ausfällt, fällt das Thanksgiving Dinner ins Wasser. Der Puter bleibt halbroh, die Mutter geht ins Bett.

Im Kerzenschein kommt allerlei Dunkles ans Licht. Die Mutter (mit dem bissigen Charme der späten Liz Taylor, immer einen giftig- grünen Drink in der Hand, eine kleine Gemeinheit parat: Ursula Werner) mordete einst den Ehemann und vergrub ihn im Garten, just am Tag, als JFK in Dallas starb. Das jedenfalls glauben ihre Kinder. Auf dem heimischen Sofa spielen Marty und Jackie die Szene nach. Sie im weltberühmten rosa Chanel-Kostüm, er ganz in Schwarz daneben. Frank Sinatra singt „The end is near“. Die beiden werfen dem imaginierten Volk Handküsse zu.

Da fallen Schüsse. Martys Kopf fällt in Jackies Schoß. Dann treiben es Bruder und Schwester miteinander. Und das seit Jahren schon. Natürlich erfährt jetzt auch Martys Verlobte davon (Inzest!) und sinkt schockiert in die Arme des jüngeren Bruders (Harald Schrott). Happy End also unwahrscheinlich. K.D. Schmidt hat das süffisante Boulevardstück (halb Seifenoper, halb Tragödie) stimmig inszeniert, mit fast durchweg überzeugenden Schauspielern. Zwei konzentrierte Stunden, ein gelungener Abend.

Der Abend am Berliner Ensemble (Koproduktion: Teatro Vascello, Rom) dauerte ungefähr genauso lang. Bloß als gelungen kann man ihn wohl nicht bezeichnen. Schon das 1940 entstandene Stück selbst ist etwas dünn. Der Schauplatz: Japan vor etwa 100 Jahren. Die Geisha Okishi wird ins Quartier des amerikanischen Generalkonsuls Harris bestellt, der die Hafenstadt Shimoda belagert. Sie besänftigt ihn, nicht mit Liebesdienst im klassischen Sinne, sondern weil sie dem kranken Mann Kuhmilch bringt, was im alten Japan offenbar noch verpönter war als Körperkontakt mit feindlichen Ausländern.

Die Stadt ist gerettet, aber keiner dankt Okishi ihre Tat. Eine heilige Hure, ein armes Mädchen. Und arme Mädchen sind das Lieblingsthema des Tanztheaters Skoronel von Judith Kuckart und Jörg Augenanger. So ziemlich jede Figur, die sich das Choreographenpaar bisher vorgeknöpft hat, verwandelte sich am Ende in ein armes Mädchen, egal, ob sie nun Ophelia, Charlotte Corday oder Vincent van Gogh hieß.

Heute heißt sie Okishi (sehr adrett: Leonore Steller). Um sie herum die böse, unmoralische Welt. Erst leichtbekleidete Mädchen im Rotlicht hinter Maschendraht in den Theaterlogen. Später dann finstere Typen, mit strengen Blicken auf Plateauschuhen. Die Bühne von Vincent Gertler, halb Gefängnis, halb Krankenanstalt. Frauen spreizen dekorativ die Beine oder duschen selbige mit einem Gartenschlauch. Hubschraubermotoren wechseln sich ab mit Musik von Hans-Werner Henze und Marizzio Rizutto, teilweise life, teilweise vom Band gespielt.

Handys klingeln, unmoralische Angebote werden unterbreitet. Manchmal klagt ein Schifferklavier und manchmal stakst als überhöhtes Symbol der einzige männliche Darsteller als japanische Geisha (oder chinesische Konkubine, wer weiß es schon) durch die Szene. Und weil im ganzen Stück bloß ein einziger Satz vorkommt, der halbwegs nach Brecht klingt („Die Grenzen, welche die Waren nicht überschreiten können, werden die Armeen überschreiten“), muß dann doch noch das alte „Wie man sich bettet / so liegt man“ her. Mehr schlecht als Brecht.