„Hinterhältigen Mord im Sinn“

In England gehört Fußball traditionell zum Festtagsprogramm. Zwischen den Spielen bleibt den Profis nur wenig Zeit, „amputierte Weihnachten“ zu feiern  ■ Aus London Ronald Reng

Im November schaute sich Alberto Mendez den Spielplan der englischen Premier League an und dachte: „Häh, wo sind denn da die freien Tage in der Weihnachtszeit?“ Mittlerweile hat Arsene Wenger, sein Trainer bei Arsenal London, den 22jährigen Mittelfeldspieler informiert: Weihnachtsferien sind dieses Jahr vom 24. Dezember, 13 Uhr, bis 25. Dezember, 10 Uhr.

Am 22. Dezember spielte Arsenal beim FC Wimbledon, am zweiten Weihnachtsfeiertag geht es gegen Leicester City, abgeschlossen wird die Woche am 28. des Monats mit dem Nordlondoner Derby gegen Tottenham. Dazwischen ist Training, und am 3. Januar geht es mit einem Pokalspiel weiter. Wie dem gebürtigen Nürnberger Mendez, der im vergangenen Sommer vom fünftklassigen SC Feucht aus Franken zu Arsenal wechselte, so erscheint den meisten ausländischen Neuankömmlingen der Terminplan der Premier League im ersten Moment wie ein Scherzartikel. Während die meisten europäischen Ligen im Winter wochenlang Pause machen, werden in Großbritannien in der Weihnachtszeit besonders viele Partien gespielt. Fußball gehört hier traditionell zum Festtagsprogramm.

Man gewöhne sich daran, sagt der norwegische Angreifer Jan Aage Fjörtoft (30), der seit fast fünf Jahren in England arbeitet: „Du hast in diesem Land so viele Spiele, da merkst du nach ein paar Jahren gar nicht mehr, ob gerade Weihnachten ist, du vergißt, wann wir Silvester haben.“ Letztes Jahr zum Beispiel mußte er mit seinem damaligen Klub, dem FC Middlesbrough, am Neujahrstag bei Arsenal antreten. „Silvester haben wir in einem schmutzigen Londoner Hotel übernachtet. Lange vor zwölf Uhr lagen wir im Bett, wie vor jedem Spiel, ganz normal. Und am nächsten Tag haben wir verloren; das war mit Middlesbrough auch normal.“

Doch der Mythos lebt, daß Spiele an den Feiertagen etwas Besonderes sind. Es war an Weihnachten 1935, als die Tranmere Rovers 13:4 gegen Oldham gewannen; es war an Weihnachten 1963, als der FC Fulham Ipswich Town 10:1 schlug. Die Vereinschronik notierte: „Fulham spielte, als habe man einen hinterhältigen Mord im Sinn.“ Früher habe es immer merkwürdige Ergebnisse an Weihnachten gegeben, behauptet Gordon Pallister (80), der nach dem Zweiten Weltkrieg Mannschaftskapitän des heutigen Erstligisten FC Barnsley war. „Die besondere Stimmung muß die Spieler inspiriert haben“, sagt er – „ich meine damit die vielen Zuschauer, nicht den vielen Alkohol.“

Selbst vor Heimspielen wurde seine Elf damals an Weihnachten im Hotel einquartiert, „weit weg von Barnsley“, sagt Pallister, „wo uns keiner kannte und uns niemand Drinks spendieren würde“. Die Methode hat sich offenbar bewährt, wie Alberto Mendez rund 50 Jahre später von Arsenals Physiotherapeuten erfuhr. „Ich habe ihn gefragt, warum wir am ersten Weihnachtsfeiertag, zum ersten Mal vor einem Heimspiel, plötzlich ins Hotel müssen“, sagt Mendez, „und er sagte mir: ,Damit sich kein Spieler bei einem privaten Weihnachtsessen zusäuft.‘“

Der Norweger Fjörtoft hat es 1994 noch erlebt, wie ein Spieltag für den 26. und der nächste für den 27. Dezember angesetzt war. „Das war lächerlich“, sagt er, „der Boden war gefroren, und im zweiten Spiel konntest du überhaupt nicht laufen, weil du noch steife Beine vom ersten hattest.“ Dieses Jahr haben erstmals alle Profis am Neujahrstag frei. Doch „zumindest am zweiten Feiertag wird wohl immer gespielt werden, das ist Tradition“, sagt Fjörtoft, „mit meiner Familie feiere ich dann zwischen Training und Match amputierte Weihnachten.“

Die Stadien sind am 26. Dezember ausverkauft, die Fankurven rot, weil die meisten Zuschauer Weihnachtsmannmützen tragen. Wenn ein Tor fällt, singen sie Weihnachtslieder. Die Engländer lieben es. „Die Leute haben zwei Tage mit ihrer Familie gefeiert, jeder weiß doch, wie das ist: Die sind es satt, zu Hause zu sitzen, die wollen raus“, sagt Lawrie Sanchez, bis 1994 zehn Jahre lang Spieler des FC Wimbledon und heute dort Assistenztrainer.

Zu Hause in Barnsley huscht ein Lächeln über das Gesicht des 80jährigen Pallister, wenn er an seine Weihnachtsauftritte denkt. Zum Beispiel in Southampton, 1946, 4:4 war das Ergebnis. „Southampton, da war ich immer gut, da hätten sie mir die Augen zubinden können, meine Pässe wären trotzdem angekommen. Wir hatten damals einen Stürmer, Cecil McCormack, der war wie dieser Deutsche, der von überall ins Tor traf, wie hieß der noch?“ Gerd Müller? „Görd Muhler, yes. Unser Cecil: Vor dem Spiel trank er drei Whiskey – und machte sein Tor.“ Dann war also doch der Alkohol schuld an den vielen legendären Resultaten an Weihnachten? „Nein“, sagt Gordon Pallister, „der McCormack hat immer drei Whiskey getrunken, vor jedem Spiel.“